Auf zum Eurokeynesianismus

Finanzminister Lafontaine wird die europäische Geldpolitik koordinieren und Arbeitsplätze schaffen. Dafür ist es richtig, in der Krise die Neuverschuldung zu erhöhen, meint  ■ Rudolf Hickel

Bremen (taz) – Die neue Wirtschaftspolitik der Regierung für „Aufbruch und Erneuerung“ ist derzeit noch schwer zu erkennen. Der Koalitionsvertrag bleibt bei der künftigen Rollenbeschreibung des Staates in der international verflochtenen Wirtschaft Deutschlands vage. Immerhin steht im rot- grünen Ehedokument der nicht ganz widerspruchsfreie Satz: Zur „neuen Wirtschaftspolitik für mehr Arbeitsplätze“ gehört „eine konjunkturgerechte und solide Finanzpolitik mit einer Verstetigung der öffentlichen Zukunftsinvestitionen“. Konturen der neuen Makropolitik lassen sich noch am ehesten beim Bekenntnis zur „internationalen Zusammenarbeit“ aufspüren. Da ist von der Einheit der Wirtschafts-, Finanz-, Geld- und Währungspolitik, die international koordiniert werden soll, die Rede. Schließlich werde „die neue Bundesregierung gemeinsam mit den europäischen Partnern entsprechende Initiativen ergreifen“.

Die neue Makropolitik läßt sich also erahnen. Gemacht wird sie in der wirtschaftspolitischen Schaltzentrale – in Oskar Lafontaines Superministerium. Dazu war die Verlagerung der gesamtwirtschaftlichen Kompetenzen aus dem Wirtschafts- ins Finanzministerium erforderlich. Heftig attackierte Äußerungen zur künftigen Politik der öffentlichen Verschuldung, aber auch zur Rolle der Bundesbank offenbaren den Willen zum fundamentalen Paradigmenwechsel. Dafür steht Lafontaine mit seinen klugen Staatssekretären Heiner Flaßbeck, ehemals im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, sowie Claus Noé und Barbara Hendricks. Eindrucksvoll haben Flaßbeck, Noé und Lafontaine in Publikationen nachgewiesen, wie die Reduktion des Staates auf die Pflege einzelwirtschaftlicher Renditeansprüche die Binnenwirtschaft in die Knie zwingt. Am Ende dieser Politik stehen die unbestreitbaren Erfolge bei der Umverteilung der Einkommen den Mißerfolgen bei der Bekämpfung der Erwerbslosigkeit gegenüber.

Der Paradigmenwechsel besteht in der Wiederentdeckung gesamtwirtschaftlicher Vernunft. Und das heißt, daß die über das einzelwirtschaftliche Zusammenspiel entstehenden gesamtwirtschaftlichen Nachfragedefizite abgebaut werden müssen. Dies hat Konsequenzen für die Finanz-, Geld- und Lohnpolitik: Die Finanzpolitik muß im konjunkturellen Abschwung antizyklisch gegensteuern. Die Geldpolitik hat die Aufgabe, in Phasen konjunktureller Schwäche und hoher Arbeitslosigkeit den finanzpolitischen Expansionskurs zu unterstützen. Monetären Spielraum bietet in dieser Phase die Stabilität des Geldwerts. Die Lohnzuwächse müssen am Anstieg der Produktivität und Inflationsausgleich ausgerichtet werden. Wachsen die Löhne wie in den letzten Jahren unterhalb dieser Linie, dann kommt es gegenüber der Produktion zu Kaufkraftverlusten und schließlich zum Rückgang des Wirtschaftswachstums. Ein „Bündnis für Arbeit“ kann nur gelingen, wenn Finanz-, Geld- und Lohnpolitik so agieren.

Dieses Paradigma, das die gescheiterte Angebotsdoktrin ablöst, folgt den Theorien von J.M. Keynes. Die Wende zum keynesianischen Denken beschränkt sich nicht auf Deutschland. Weltweit ist die Re-Keynesianisierung zu erkennen. Unlängst deutete der renommierte US-Ökonom Paul Romer in der FAZ die weltwirtschaftlichen Fehlentwicklungen keynesianisch: Durch die Krisen in Südostasien und Rußland hinkt auch in den Industriestaaten die Produktion hinter dem Produktionspotential her. Nur mit einer international koordinierten expansiven Finanz- und Geldpolitik ließe sich diese deflationäre Situation überwinden.

Der Wiedereinzug keynesianischen Denkens in die deutsche Politik wird nicht einfach. Denn durch die Angebotsdoktrin verfestigte Tabus müssen gebrochen werden. Im Zentrum der Tabubrüche stehen aktuell die öffentliche Verschuldung sowie die Rolle der Bundesbank bzw. der Europäischen Zentralbank. Die rot-grüne Regierung kann schneller, als ihr lieb ist, den Mut beweisen, trotz bitterer Widerstände ihre neue Finanzpolitik durchzuhalten. Unbestreitbar ist, das Haushaltsdefizit wird gegenüber der Waigelschen Planung für 1999 erheblich höher ausfallen. Zum einen hinterläßt die alte Regierung Haushaltslöcher von über 15 Milliarden Mark. Zum anderen ist es unvermeidbar, die bisher unterstellte Rate des wirtschaftlichen Wachstums von knapp 3 Prozent auf 2,3 Prozent 1999 nach unten zu korrigieren. Wachstumsverluste belasten nicht nur den Bundeshaushalt, und Mindereinnahmen stehen Mehrausgaben gegenüber. Die neue Regierung plant, diese Löcher ausschließlich über die Erhöhung der Neuverschuldung zu stopfen. Diese antizyklische Finanzpolitik verdient Anerkennung. Würde die Deckungslücke durch Kürzungen von Staatsausgaben gestopft, gliche dies dem Rennen zwischen Hase und Igel. Streichungen von Staatsausgaben führten in der Wirtschaft zu Mindereinnahmen und zu Produktions- und Arbeitsplatzverlusten. Am Ende würde ein größeres Loch im Staatshaushalt entstehen.

In der momentanen konjunkturell angespannten Lage der öffentlichen Haushalte sind Vorschläge, massive Nettoentlastungen durch eine Steuerreform über öffentliche Kreditaufnahme finanzieren zu wollen, schlichtweg abenteuerlich. Dies gilt für die Empfehlung im Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute. Die schlagen vor, in einem ersten Reformschritt die Wirtschaft mit 10 bis 15 Milliarden Mark zu entlasten. Die Hälfte der Steuerausfälle soll dann über öffentliche Neuverschuldung finanziert werden. Ein doppelter Haushaltsflop wäre die Folge. Wie die Erfahrung der letzten Jahre lehrt, haben Steuergeschenke an die Wirtschaft die Bereitschaft, zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen, nun wirklich nicht erhöht. Die Gegenfinanzierung über mehr Wirtschaftswachstum ist ausgefallen. Die per Staatsschulden bezahlte Entlastung käme hinzu. Am Ende würden nur größere Haushaltslöcher aufgerissen. Würde den angebotsorientierten neoliberalen Kritikern gefolgt, dann käme die Schuldenregierung ohne Erfolg bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zustande.

Derzeit gibt es auch nach dem Maastricht-Kriterium Spielraum für zusätzliche Staatsverschuldung. 1999 wird der Anteil der Neuverschuldung am Sozialprodukt auf 1,6 Prozent geschätzt. Dieser Spielraum, der zum Maastricht-Kriterium mit 3 Prozent verbleibt, muß für die antizyklische Finanzpolitik genutzt werden. Die Chancen für die Vergemeinschaftung des keynesianischen Paradigmas in der EU sind nicht schlecht. Oskar Lafontaine ist dabei, den Weg für einen Eurokeynesianismus zu ebnen. Dazu müssen die Geld- und Währungspolitik im Euroland gleichrangig an den Zielen Eurostabilität und hoher Beschäftigungsstand ausgerichtet werden. Den Mitgliedsländern der EU ist endlich wieder genügend Spielraum für antizyklische Finanzpolitik zurückzugeben. Deshalb sollte das Neuverschuldungskriterium im EU- Wachstums- und Beschäftigungspakt noch mal überprüft werden. Die Idee Lafontaines, investive Beschäftigungsprogramme künftig nicht auf die Schuldenbegrenzung anzurechnen, weist in die richtige Richtung.

Rudolf Hickel ist Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen