Der Stein, der ins Wasserglas fiel

■ In der Tradition Dario Fos hat der Schauspieler Marco Paolini einen bissigen Monolog über eine Überschwemmung verfaßt, die vor über dreißig Jahren 2.000 Menschen das Leben kostete

Wenn der Herbst mit seinen heftigen Regenfällen kommt, beginnen in den Alpen mit unschöner Regelmäßigkeit die Berge zu rutschen, Straßen werden unpassierbar, Brücken brechen ein. Resigniert bis gelangweilt betrachten wir im Fernsehen allabendlich die Bilder von gelben Fluten, schwimmenden Autos und den unermüdlichen Helden der Sandsäcke. Wenn die Brenner-Autobahn mal wieder gesperrt ist, mag das vielleicht ärgerlich für die Toskana- Fraktion sein, aber es gibt größeres Elend in der Welt. Längst hat man verdrängt, daß es auch schlimmer kommen kann, wie beispielsweise 1959 am Fréjus-Staudamm in Frankreich oder 1963 am Vajont in Venetien.

Auch und gerade in Italien war fast vollständig in Vergessenheit geraten, was sich am 9. November 1963 am Vajont nördlich von Belluno ereignete. Eine durch einen riesigen Bergrutsch ausgelöste Flutwelle war über den nagelneuen Staudamm geschwappt, hatte fünf Dörfer in dem darunterliegenden Tal unter sich begraben und fast 2.000 Menschen das Leben gekostet. Aber der Damm hatte gehalten. Der selbst aus Belluno gebürtige Schriftsteller und Journalist Dino Buzzati beschrieb das Geschehen damals so: „Ein Stein ist in ein Glas gefallen, das Wasser ist auf die Tischdecke gelaufen. Das ist alles. Nur, daß der Stein so groß wie ein Berg war, das Glas ein paar hunder Meter hoch und unten auf der Tischdecke Tausende von Menschen standen, die sich nicht wehren konnten. Und das Glas ist nicht einmal zerbrochen; man kann den, der es gebaut hat, nicht beschimpfen, denn das Glas war gut gemacht, nach allen Regeln der Kunst, ein Zeugnis der Ausdauer und des Mutes der Menschen. Der Vajont-Damm war und ist ein Meisterwerk. Auch in ästhetischer Hinsicht.“

Darüber, daß der Vajont- Damm alles andere war und ist als ein „nach allen Regeln der Kunst“ geschaffenes Meisterwerk, hat die italienische Öffentlichkeit jetzt endlich, nach mehr als zwanzig Jahren, zu diskutieren begonnen. Dies ist vor allem das Verdienst des Schauspielers Marco Paolini, Autor einer „orazione civile“, einer Bürgeransprache, die jetzt auf deutsch unter dem Titel „Der fliegende See“ im Verlag Antje Kunstmann erschienen ist. Paolini und sein Regisseur Gabriele Vacis stehen in der Tradition einer Mischung aus Commedia dell'arte und politischem Theater, für die Dario Fo im letzten Jahr den Nobelpreis erhielt.

Der Monolog hat auf Straßen und Plätzen, auf alternativen Festivals, in Off-off-Theatern und Kulturzentren begeisterte Zuschauer gefunden, aber er hätte nie ein wirklich breites Publikum erreicht, wenn nicht ein mutiger Redakteur des öffentlich-rechtlichen Fernsehens Paolini zur besten Sendezeit vor der Kulisse des regenverhangenen Staudamms drei Stunden lang live seine „Chronik einer angekündigten Katastrophe“ hätte vortragen lassen. Und da geschah das Paradoxe und Unglaubliche: Der Mann, der mit nichts als mit Worten an Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse erinnerte und sarkastisch unangenehme Wahrheiten aussprach, zog die Fernsehzuschauer buchstäblich in seinen Bann und stahl den Stars der Unterhaltungssendungen der anderen Kanäle die Schau. Nicht weniger paradox und schier unglaublich ist es, daß der gewaltige Monolog sogar auf die Suggestivkraft des Schauspielers verzichten kann und den Leser wie ein Sog in die komplexe Geschichte hineinzieht. Die deutsche Übersetzerin Gesa Schröder hat dabei die Kraft des gesprochenen Wortes hervorragend wiedergegeben.

Scheinbar spielerisch und assoziativ beginnt Paolini sich und den Zuschauer/Leser zu befragen, wieviel ein Kubikmeter Wasser wiegt, aber damit zielt er in Wirklichkeit direkt auf unsere Abgestumpftheit gegenüber dem konkreten Gehalt der Informationen, die täglich auf uns einstürmen. Weiter überrascht uns der Autor mit Erinnerungen an seine Kindheit, an die Fahrt in die Ferien durch den Ort, der später von der Flutwelle vernichtet wurde, und bringt uns dazu, darüber nachzudenken, was wir ganz persönlich mit diesen Jahren verbinden.

So gerüstet, führt Paolini den Leser/Zuschauer in die Bergtäler, in denen der technische Fortschritt so lange ersehnt wurde, dann aber mit brutaler Gewalt Einzug gehalten hat. Die Erzählung greift weit hinter das Jahr 1956, den Baubeginn des Staudammes, zurück, denn das Projekt und der ihm zugrunde liegende technische Größenwahn reichen bis in die zwanziger Jahre und wurden aus der Zeit des Faschismus ziemlich bruchlos in die Nachkriegszeit übernommen. Atemlos folgt man der Verquickung von hochfliegenden politischen Plänen, Machtkämpfen, wirtschaftlichen Interessen, Schlamperei, wissenschaftlichem Dünkel, Versagen der Bürokratie, Gleichgültigkeit und zu schwachem Widerstand, die zu der Katastrophe geführt hat. Paolini nennt Namen und zeigt politische Verantwortlichkeiten auf, aber dadurch, daß er sie nicht der Regierung, der Partei oder dem Kapitalismus zuweist, sondern von konkreten Handlungen konkreter Menschen erzählt, wird deutlich, daß eine solche Geschichte, die „ein griechischer Dramatiker geschrieben zu haben“ scheint, jederzeit wieder geschehen kann.

Der Widerstand gegen den Damm wird keineswegs heroisiert. Immer wieder taucht der Name einer Journalistin der kommunistischen Unità auf, die mit ihren Warnungen, die sich später alle als begründet erwieseen, selbst bei den Bewohnern des Tals kaum Widerhall fand. Als deutsche Leserin hätte ich mir im Anhang statt der etwas nichtssagenden Dokumente noch ein Porträt oder einen der Artikel dieser mutigen Frau gewünscht. Friederike Hausmann

Marco Paolini, Gabriele Vacis: „Der fliegende See. Chronik einer angekündigten Katastrophe“. Verlag Antje Kunstmann, 1998, 32 DM