„Junge Leute mit kranken Nerven“

Was vom Uni-Streik übrigblieb: Dieses Wochenende gründet sich das „Bildungssyndikat“, eine bundesweite Gewerkschaft anarchistischer Ausrichtung  ■ Aus Berlin Ralph Bollmann

Das muß in den Wirren des Streiks untergegangen sein. Erst jetzt erfährt die interessierte Öffentlichkeit aus dem Gründungsaufruf eines überregionalen „Bildungssyndikats“, das sich in Berlin schon während des Uni-Protests im vergangenen Winter eine „anarcho-syndikalistische Bildungsgewerkschaft“ gründete.

Doch ein Jahr später macht die Nachricht plötzlich Furore. Selbst Lokalzeitungen aus süddeutschen Provinzstädten entsenden Berichterstatter in die ferne Hauptstadt, um über den „Kongreß für die Gründung einer überregionalen freien Bildungsgewerkschaft“ zu berichten. Alle wollen wissen, was vom Streik übriggeblieben ist. Allein: Viel ist es nicht.

Erfolglos war der Streik trotzdem nicht. Schließlich stritten vermeintliche und tatsächliche Revolutionäre schon in der sozialdemokratischen „Massenstreikdebatte“ vor fast 100 Jahren, ob man für die Hebung des Klassenbewußtseins oder um konkreter Ziele willen streiken solle. Der Studentenstreik gehörte ohne Zweifel in die erste Kategorie. Nicht um Bücher oder Professorenstellen ging es, sondern um existentielle Selbsterfahrung, wobei sich das Wort „Klassenbewußtsein“ vielleicht durch „politische Sozialisation“ ersetzen ließe. So verstanden, war der Streik ein voller Erfolg: Die AktivistInnen werden noch ihren Enkeln etwas zu erzählen haben.

Auch das bundesweite „Bildungssyndikat“, das sich am Wochenende gründen will, übt sich schon vorher in vollmundiger Rhetorik. Es will sich der „Freien ArbeiterInnen Union“ (FAU) als branchenübergreifendem Dachverband anschließen. „Wir bezeichnen uns selbst als Anarcho- SyndikalistInnen“, umreißt die FAU ihre Prinzipien: „AnarchistInnen, weil wir was gegen Chefs, Pfaffen und Funktionäre haben. SyndikalistInnen, weil wir viel von Solidarität und Selbstorganisation von uns ArbeiterInnen halten.“ Ihre „auf Selbstverwaltung gegründete Gesellschaftskonzeption“ will die FAU mit den „Mitteln der Direkten Aktion (z.B. Besetzungen, Boykotts, Streiks usw.)“ durchsetzen. „Indirekte Maßnahmen wie die parlamentarische Betätigung“ lehnt sie ab.

Großes Vorbild sind die romanischen Länder – vor allem Frankreich, wo der Theoretiker Georges Sorel schon um die Jahrhundertwende die „direkte Aktion“ als Allheilmittel gegen die parlamentarischen Tendenzen in den sozialistischen Parteien pries. Noch heute lobt die FAU-Zeitschrift das französische Beispiel, wo Mitglieder der Partnergewerkschaft mit einer Torte auf Daniel Cohn-Bendit zielten.

In Deutschland hingegen lehnte schon zu Sorels Zeiten selbst der verbalrevolutionäre SPD-Theoretiker Karl Kautsky die syndikalistischen Ideen scharf ab. In seinem Theorieorgan Neue Zeit hieß es über einschlägige Tendenzen in Italien, die „neue Lehre“ werde von einer „Handvoll junger Akademiker“ beherrscht, die „ästhetisches Gefallen an der revolutionären Geste“ fänden, kurzum: Der Syndikalismus befriedige das „Sensationsbedürfnis junger Leute mit reizbaren oder kranken Nerven“. Dem konnte auch die Parteirechte um Eduard Bernstein nur zustimmen. „Die jungen Leute von 16 bis 18 Jahren haben nicht die politische Besonnenheit und Ruhe der erfahrenen Parteigenossen“, hieß es in den Sozialistischen Monatsheften, „der Syndikalismus ist eben seinem Wesen nach Jugendlichkeit und Unreife.“