Im Osten bergauf, im Westen bergab

Früher trennte sie die Grenze, heute trennt die wirtschaftliche Entwicklung die Städte Sonneberg in Südthüringen und Neustadt in Oberfranken. Nur der ehemalige Neustadter Bürgermeister löst zu Fuß ein altes Versprechen ein  ■ Von Jens Rübsam

Einmal im Monat verläßt Hellmut Grempel, 78, beizeiten das Haus, bekleidet je nach Wetterlage, aber stets in festem Schuhwerk. Neustadts Altoberbürgermeister hat exakt zehn Kilometer Weg zurückzulegen, fünf Kilometer bis zum Rathaus im südthüringischen Sonneberg, fünf Kilometer zurück ins oberfränkische Neustadt bei Coburg – ergibt, seit Öffnung der Grenze im November 1989, 1.090 Kilometer und jeweils vier Stunden Fußmarsch. „Hätte ich das gewußt“, scherzt Hellmut Grempel dieser Tage, verpackt im schweren Wintermantel, „hätte ich das Versprechen nie gegeben.“ 1959, zwischen Sonneberg und Neustadt patrouillieren längst DDR-Grenzer hinter meterhohem Stacheldrahtzaun, hatte sich der junge Stadtbedienstete Grempel euphorisch geschworen: „Fällt eines Tages der Zaun, werde ich einmal im Monat von West nach Ost und zurück laufen.“ Bis heute hält er sich daran. Doch manchmal fehlt dem alten Mann die Freude. Im ehemaligen Zonenrandgebiet herrscht Krisenstimmung.

In Neustadt bei Coburg werden 330 Siemens-Arbeitsplätze zu Grabe getragen, im Sonneberger Gesellschaftshaus die Tische für ein Jazzfestival beiseite gerückt. In Neustadt sperren die Geschäftsleute am Samstag mittag die Läden zu, im Sonnberger Gewerbegebiet, nur einen Hauch von der früheren Demarkationslinie entfernt, drängeln sich bis spät in den Nachmittag Autos um grelle Supermärkte, Gartencenter und Möbelläden. In der Neustadter „Thüringisch- Fränkischen Begegnungsstätte“ schimpfen die Wirtsleute Heinzler über die Ossis, die zu Tausenden (14.000) tagtäglich ins Coburger Land schwärmen und „unseren Leuten hier die Arbeit wegnehmen“, im „Grünen Baum“ zu Sonneberg freuen sich die Genossen der SPD aus Neustadt und Sonneberg im Jahre acht der Wiedervereinigung diebisch darüber, „endlich wieder einmal zusammengefunden“ zu haben. Im Neustadter Rathaus betrachtet Oberbürgermeister Frank Rebhan (SPD) mit Besorgnis die neuesten Arbeitslosenzahlen, immerhin 8,4 Prozent im Oktober, die höchste Quote im Arbeitsamtsbezirk Coburg, im Sonneberger Rathaus verweist Bürgermeisterin Sybille Abel (FDP) mit Zufriedenheit auf die Herbststatistik, nur 9,9 Prozent Arbeitslose, die niedrigste Quote im Suhler Arbeitsamtsbereich.

Genau auf der bayerisch-thüringischen Grenze veschnauft Hellmut Grempel kurz, der wandernde Altoberbürgermeister, und macht eine eigene Rechnung auf: „In Neustadt sind von der Euphorie der Wendezeit nicht mal zehn Prozent übriggeblieben.“

Es müssen schon alte Geschichten erzählt und verblaßte Bilder herausgekramt werden, um zu zeigen, daß es durchaus einmal herzliche Beziehungen zwischen den Menschen der nahe gelegenen Städte gab. Geschichten wie die vom 1. September 1949. 20.000 Neustadter und Sonneberger demonstrieren am Stacheldraht für die „Wiederherstellung der deutschen Einheit“ und erzwingen für wenige Stunden Durchlaß. Geschichten wie die vom 12. November 1989, der Öffnung der Grenze an der „Gebrannten Brücke“. 13.000 Sonneberger stehen an diesem Sonntag auf dem Neustadter Marktplatz nach Begrüßungsgeld Schlange, 1,3 Millionen Mark werden an einem Tag ausgezahlt. Bilder vom 10. Februar 1990. SPD- Bürgermeister Grempel und sein Sonneberger SED-Kollege unterzeichnen eine Urkunde: „Dem Wunsch der Bevölkerung und ihrer Vertreter entsprechend begründen beide Städte eine Städtepartnerschaft.“ Bilder einer fröhlichen Festlichkeit 1990 in der Neustadter Frankenhalle, auf einem Transparent ist zu lesen: „Sonneberg sagt Dankeschön“. Es singt der LPG-Frauenchor. Im Frühjahr dieses Jahres läßt die Stadtverwaltung Neustadt die „Informationsstelle über die Teilung Deutschlands“, dreißig Jahre mahnendes Museum in der Stadt, in einem kleinen Raum der „Thüringisch- Fränkischen Begegnungsstätte“ verschwinden, der Rest der Geschichte wird in den Keller entsorgt.

Bitterkalt ist es an diesem Novemberwochenende im Oberfränkischen. Vor dem Siemens-Werktor, dem größten Betrieb in Neustadt, harren 1.000 Beschäftigte, Trillerpfeifen im Mund, rote IG- Metall-Fähnchen in der Hand. Auf einem Plakat wird Neustadt zum „Notstandsgebiet“ ausgerufen, auf einem anderen der Zeit nachgetrauert: „Grenzland ade, Subventionen ade“. „Bekommt Siemens einen Husten, bekommt Neustadt eine Lungenentzündung“, klagt Altoberbürgermeister Grempel.

Siemens hustet. 100 Frauen sind bereits entlassen worden. Von den 1.000 verbliebenen Arbeitsplätzen sollen weitere 330 abgebaut werden. Für 110 Beschäftigte, so hat es die Münchner Konzernleitung angekündigt, soll eine Alternative gefunden werden. Was für eine?

Dem Betriebsratsvorsitzenden Swen Götz bleibt dieser Tage oft nur ein hilfloses Schulterzucken. Wütende Arbeitnehmer muß der große, hagere Mann trösten, vor allem wütende Neustadter. In den 60er Jahren hat Siemens türkische und italienische Gastarbeiter nach Neustadt und ins Werk geholt, 300 waren einst hier beschäftigt, heute sind es noch 60. Nach der Grenzöffnung kamen 400 Thüringer dazu, junge, qualifizierte und motivierte Leute, heute sind noch 180 im Werk. Wie in den 60ern fehlte es auch noch Ende der 80er Jahre an Arbeitskräften in der Region Oberfranken. Eine Arbeitslosenstatistik zu erstellen lohnte fast nicht: Neustadter hatten Arbeit.

Heute kränkelt nicht nur das Siemens-Kabelwerk. Auch beim Lichtwellenleiter-Produzenten Siecor, mit 400 Beschäftigten der zweitgrößte Arbeitgeber am Ort, machen Entlassungsgerüchte die Runde. Sämtliche Puppenhersteller, traditionsreich und Namensgeber der „Puppenstadt Neustadt“, lassen schon lange in Fernost fertigen und kleben in der heimischen Zentrale nur noch die Schilder auf. Noch mitte der 80er Jahre standen in der Puppenfabrik Lissi Bätz 150 Beschäftigte in Lohn und Brot, zudem waren 50 Heimarbeiter beschäftigt. Heute wickeln 20 Leute den Vertrieb ab.

Und außerdem: Der Neustadter Einzelhandel darbt vor sich hin. In der Straße von Altoberbürgermeister Grempel haben allein in den vergangenen zwei Jahren neun Geschäfte geschlossen. In der Innenstadt dekorieren Schilder „Zu vermieten“ die Schaufenster. Der Aldi ist weggezogen – nach Sonneberg, ins Einkaufscenter, 50 Meter hinter der Neustadter Stadtgrenze. Da leuchtet nunmehr inmitten einer grüner Wiese eine McDonald's- Raststätte. Fast food für die Oberfranken.

Neustadt, Verliererin der Einheit? Oberbürgermeister Frank Rebhan, ein dynamischer Mann, verneint so heftig, daß die Vermutung naheliegt: An der Frage ist was dran. Hört man die Sonneberger Bürgermeisterin Sybille Abel von ihrem Städtchen in Superlativen plaudern – höchstes Pro-Kopf- Einkommen Thüringens, beste Fördersätze für Investitionen –, bekommt die Vermutung Gewicht. Lauscht man an den Stammtischen in Neustadts Kneipen – „Früher ging es uns gut“, „jetzt könnten die die Grenze wieder zumachen“ –, wird die Vermutung zur Gewißheit.

Der alte Herr Grempel, bei seinem Monatsspaziergang mittlerweile angekommen in Sonneberg, räuspert sich. „Also ehrlich“, sagt er leise, „ich habe nie daran geglaubt, daß die beiden Städte mal zusammenwachsen.“

Im Westen der Neid und die Erinnerung an die Wohlstandsjahre, im Osten die Trotzigkeit, „Euch zeigen wir's“, und die reichlichen Zuschüsse. Vor gut einem Jahr brachte der baden-württembergische Finanzminister auf den Punkt, was das Westvolk denkt: 17.000 Mark, plärrte Mayer-Vorfelder durchs Land, hat jeder Westbürger seit der Vereinigung für den Aufbau Ost beigesteuert. Wofür, sagen die Neustadter, sehe man täglich durch die Innenstadt fahren: feine Westwagen mit Sonneberger Kennzeichen, und stehe im Ortsteil Wildenhain: schmucke Einfamilienhäuser, gebaut von Thüringern. Die PDS erhielt dieses Jahr erstmals bei einer Wahl auch Stimmen in Neustadt.

Ein Schmunzeln kann dies Rebhan entlocken. Ärgerlich wird der 38jährige Sozialdemokrat dagegen, wenn wieder ein Investor abspringt, lieber im Nachbarland Thüringen baut, weil der Staat hier für die Ansiedlung von produzierendem Gewerbe bis zu 50 Prozent Zuschuß zahlt und zudem eine steuermindernde Sonderabschreibung gewährt, Aufbau Ost heißt das. „Mir wird das Messer auf die Brust gesetzt“, sagt Rebhan streng und muß in seiner Not Zugeständnisse machen, beispielsweise bei dem Quadratmeterpreis für erschlossenes Bauland. Die Grenzlandabschreibung, die Neustadt zu Zonengrenzzeiten für Investoren steuerlich interessant machte, ist gestrichen worden, Fördermittel aus Bonn sind nicht mehr so üppig wie früher. Zwar gewähren Bund, Land und EU heute immer noch Fördermittel, um die Region zu stärken, aber nur noch zwischen 5 und 28 Prozent. Das Problem ist ein anderes: Hinter Neustadt hört die Welt nicht mehr auf. Für Klein- und Großbetriebe gibt es eine Alternative und noch günstigere Konditionen – in den neuen Bundesländern. Auf dem „Zukunftsforum Oberfranken“ Anfang des Jahres sorgte sich Bayerns Ministerpräsident Stoiber um das Fördergefälle zwischen bestimmten Gebieten in Bayern und Thüringen.

Altbürgermeister Grempel, zwei Stunden unterwegs in der Kälte und nunmehr auf dem Heimweg nach Neustadt, will an früher erinnern, an die guten Zeiten. Als die Firma Siecor 1986 nach Neustadt kam, dann deswegen, weil hier ein günstiges Grundstück zu bekommen war, 25 Mark pro Quadratmeter, ein Werk errichtet werden konnte, das 104 Millionen Mark kostete und mit 26 Millionen gefördert wurde. Zur Einweihung flog sogar Franz Josef Strauß ins rote Oberfranken ein. SPD-Mann Grempel trotzte dem strammen CSUler bei dieser Gelegenheit noch zwei Millionen Mark Fördermittel aus der Landeskasse ab.

Heute trotzen die Neustadter wieder. Von den 14.000 Thüringer Einpendlern nach Oberfranken arbeiten allein in Neustadt 1.213. Neustadt hat insgesamt 7.000 Arbeitsplätze zu besetzen und nur 130 Auspendler, die in Thüringen arbeiten. Im Neustadter Krankenhaus ist die Hälfte des Pflegepersonals aus dem Osten. In die „Thüringisch-Fränkische Begegnungsstätte“, wo die Heinzlers die „Thüringer Stube“ bewirtschaften und in den Wendemonaten Freikuchen und Freibier „für die Ossis“ spendierten, kommt niemand mehr „von drüben“. Ein gemeinsamer Betriebsausflug der Mitarbeiter der Stadtverwaltungen von Neustadt und Sonneberg scheiterte wegen Abspracheschwierigkeiten. Die Leiter der beiden Puppenmuseen, heißt es, können auch nicht miteinander. Die Bürgermeister beider Städte pflegen einen „höflichen Umgang“. Der Geschäftsführer der Sonneberger kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, ein Neustadter, traut sich nicht, sein marodes Verwaltungsgebäude zu sanieren, weil man ihm sonst Wessi-Manieren unterstellen würde. „Vorrang“, sagt er diplomatisch, „hat die Sanierung der Plattenbauten.“ Der Altoberbürgermeister Hellmut Grempel wird auch im Dezember seinen Verständigungsspaziergang machen.

Neulich erst hat der Neustadter Pfarrer zu einem Gespräch zwischen Neustadtern und Sonnebergern geladen, Thema: „Friede im kleinen.“