Liebe zu Zeiten der Herzverfettung

In Zürich wurde „Der Kuß des Vergessens“ von Botho Strauß uraufgeführt. Mit Matthias Hartmann kam erstmals ein Regisseur zum Zuge, der den Gegenwartsautor als einen Klassiker kennengelernt hat. Das Ergebnis ist gleichwohl ein berührungsloses Umkreisen  ■ Von Jürgen Berger

Das Paar kennt sich ein Leben lang und steht sich fremd gegenüber. Der „Schwundgreis“ heißt Herr Jelke und ist jenseits der Fünfzig, während Ricarda zwar erst um die Dreißig ist, im Verlauf des Stückes aber auch an zunehmender Altersschwere zu laborieren scheint. Wäre die nicht, könnte man meinen, da seien Figuren aus Botho-Strauß-Stücken der siebziger und achtziger Jahre wiederauferstanden. Paare aus „Trilogie des Wiedersehens“ oder „Kalldewey, Farce“. Jetzt aber wirken sie seltsam vergessen. Zu keinem Gefühlsausbruch fähig, glühen sie inzwischen schon so lange, daß die Hitze allmählich das Material anzugreifen scheint.

„Moral Interludes“ nennt Botho Strauß seine episch-dramatische Szenenfolge, deren erster Teil „Die Ähnlichen“ von Peter Stein im Juni in Wien uraufgeführt wurde und deren zweiter Teil „Der Kuß des Vergessens“ sich jetzt Matthias Hartmann in Zürich vorgenommen hat. Damit wurde zum ersten Mal einer aus der Generation der Dreißigjährigen an eine Strauß-Uraufführung herangelassen, einer derjenigen, die den Zeitdramatiker als Klassiker kennenlernten. Hartmann inszeniert zur Zeit am Wiener Burgtheater und Hamburger Schauspielhaus, wo er als Baumbauer- Nachfolger im Gespräch war. In Zürich liegt er ganz im Trend des Jahres: Good old Schaubühne meets old Strauß.

Nachdem Edith Clever im April „Jeffers Akt I & II“ in Berlin am Rande der Lächerlichkeit verraunen ließ und Peter Stein in Wien alte Zeiten beschwor, sorgte nun der ehemalige Schaubühnen- Raumkünstler Karl-Ernst Herrmann in Zürich mit durchscheinenden Wänden für Leichtigkeit auf der Bühne. Sie verschieben sich gegeneinander, bieten Platz für Zwischentitel-Projektionen wie „Die Worte“ und öffnen immer wieder neue Räume, in die ein weiterer Ex-Protagonist der Schaubühne als Herr Jelke vordringen kann: Otto Sander. In kurzen Monologen wie dem vom Ekel beim Geldausgeben führt er vor, daß Botho Strauß nur dann gut ist, wenn er die Ratlosigkeit der Moderne in grotesken Dialogen faßt.

Sander spielt das mit traurigem Witz ganz nebenbei und komödiantisch, während Anne Tismer geschäftig durchprobiert, wie sich bei Botho Strauß eine Frau der neunziger Jahre fühlen mag. Ricarda könnte ein zorniges Mädchen sein, das sich die Welt und die Liebe trotz allem noch einmal erobern will, und Tismer läßt immer wieder anarchische Anflüge erkennen. Zum Abflug allerdings reicht es nicht. Zu sehr krankt die Figur daran, daß sie für Herrn Jelke lediglich eine zu formende Experimentiermasse und in Zürich mal ein tobendes Girlie, mal eine Sexbombe mit Feldbusch-Appeal zu sein hat. Tismer, bis letzte Saison noch bei Leander Haußmann in Bochum, spielt das immerhin vehement. Je länger das aber geht, desto überflüssiger erscheint diese Figuration purer weiblicher Emotionalität.

Um Jelke und Ricarda sind neun weitere Figuren gruppiert, getreu der Strauß-These, in der maroden Mediengesellschaft löse sich jegliche Individualität in Masse auf. Also gibt es, bevor sich die beiden berührungslos umkreisen, ein Vorspiel enthusiastischen Kunstaufbruchs, schwärmt ein Massenkörper von einem neuen Film, der die Gemeinde aus dieser „Epoche der Herzverfettung“ führen könnte. Daß nichts draus wird, ist klar. Zu eindeutig reden lediglich Strichfiguren „in sprunghaftem Wechsel aufeinander ein“, und zu sehr blickt der Kulturkritiker Strauß von erhobener Warte auf das Massengeplappere herab.

Auf die Frage, ob da nicht Elitedenken mit im Spiel sein könnte, fragte Matthias Hartmann ganz ernsthaft zurück: „Kann man die Behauptung, daß nur wenige Menschen überhaupt denken können, als Elitedenken bezeichnen?“ So frech diese Anmutung noch gemeint sein mag, so brav bedient er in Zürich dann aber doch das alljährliche Revival altbekannter Figuren eines Botho Strauß, der mit moralischen Zwischenspielen bereits in Richtung eines Alterswerks eingebogen ist und vom delirierenden Essayisten des „Anschwellenden Bocksgesangs“ ablenkt.

Am Ende des Stückes wiederholt sich die Szene des enthusiastischen Massengeplappers. „Der Kuß des Vergessens“ endet schließlich mit dem ersten Kennenlernen von Ricarda und Jelke, woraufhin sich die Gemeinde entspannt zurücklehnen kann. Ricarda und Herr Jelke passen tatsächlich zusammen – zumindest unter einen Schirm. Den Knirps über sich entfaltet, gehen sie nach hinten ab, als sei es ein Film von Chaplin. Draußen bricht derweil der Schweizer Winter ein.