Deutsche Kriegsversehrte sterben aus

Die Invalidensiedlung in Frohnau war einst Quartier nur für Veteranen. Heute – 60 Jahre nach der Gründung – leben in der Siedlung mit einem Rest militärischem Flair nur noch 38 Kriegsversehrte. Bald wird sie ihren Zweck erfüllt haben  ■ Von Iris Krumrei

Joachim Kallert ist Vertreter einer raren Spezies. Er ist einer der wenigen rentenberechtigten Kriegsbeschädigten des 2. Weltkriegs, die noch in der Frohnauer Invalidensiedlung leben.

Der heute 77jährige Kallert wurde während des zweiten Weltkriegs wegen einer Lungenerkrankung in einem belgischen Lazarett behandelt. Dort zog er sich unter anderem eine schwere Thrombose zu. Seine Erkrankung wurde als Kriegsleiden anerkannt und die Invalidensiedlung so für ihn und seine Frau Annemarie (77) zur Heimat. Vor 53 Jahren haben sie hier geheiratet, im Februar 1945, am Tag eines schweren Bombenangriffs auf Berlin.

Heute sind nur noch 38 Kriegsversehrte unter den insgesamt 290 Bewohnern der fast schon historischen Siedlung. Bis 1978 waren die Veteranen und ihre Familien in der Wohnanlage ausschließlich unter sich geblieben. Heute machen neben den Angehörigen der Veteranen Schwerbeschädigte und deren Familien den größten Teil der Bewohnerschaft aus.

Invalidensiedlung, das bedeutet ein Leben weitab vom Schuß, im Frohnauer Forst im äußersten Norden Berlins. Die Siedlung, die die einzige Wohneinrichtung für Kriegsversehrte in Berlin ist, liegt in unmittelbarer Nähe des Mauerstreifens. Die Wohnanlage auf dem langgezogenen, ovalen Terrain steht unter Denkmalschutz und umfaßt 49 Mehrfamilienhäuser sowie ein Gemeinschaftshaus und eine Versehrtensporthalle. Mitten durch das symmetrisch bebaute und wohlgeordnet angelegte Gelände verläuft ein auenartiger Grünstreifen. Dort erinnert ein Mahnmal an Oberst Wilhelm Staehle, bis 1944 Kommandant der Invalidensiedlung. Staehle war gemeinsam mit seiner Frau im Widerstand aktiv und versteckte politisch Verfolgte in der Siedlung. 1945 wurde er ohne vorhergehende Gerichtsverhandlung von der SS erschossen.

Ist der Nationalsozialismus unter den Kriegsversehrten noch Thema? Da rede keiner drüber, sagt Joachim Kallert - „Solche wird's auch noch geben, aber Sie gucken ja nicht in die Leute 'rein.“ Bis 1945 hatte die Invalidensiedlung eine deutliche militärische Prägung, was beispielsweise in verschiedenen Häusern für Offiziere und Mannschaft seinen Ausdruck fand. Ein Rest von Veteranenflair schwebt noch immer über der Siedlung. So stehen zwei altertümliche, aber frischgestrichene Kanonen in der Grünanlage, die Häuser tragen Embleme, die an Schauplätze preußischer Schlachten im 18. Jahrhundert erinnern. Des weiteren zählt der Frohnauer Ortsverband des „Sozialverband Reichsbund e.V. (vormals: Reichsbund der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten, Sozialrentner und Hinterbliebenen e.V.)“, in der Siedlung diverse Mitglieder.

Früher gab es auch Kinovorführungen und einen Lebensmittelladen, „jetzt kriegt man hier nicht mal mehr Nähgarn“, klagt Annemarie Kallert. Der Weg zum Einkaufen ist weit und beschwerlich, nicht optimal für alte Menschen und Schwerbehinderte. Nur ein Friseur ist auf dem Gelände geblieben, „Salon Jutta“. Großartig finden die Kallerts den siedlungseigenen Versehrtensportverein, in dem sie jahrelang aktiv waren.

Die Invalidensiedlung wird von der Stiftung Invalidenhaus finanziert, die vom preußischen König Friedrich II. gegründet wurde und in diesem Jahr ihr 250jähriges Bestehen feiert. Errichtet wurden die Backsteingebäude der Frohnauer Siedlung Ende der 30er Jahre von der Wehrmacht. 1939 zogen Kriegsversehrte ein, die zuvor im Invalidenhaus in Berlin-Mitte gelebt hatten, das fortan von der Militärakademie genutzt wurde. Heute verwaltet das Landesamt für Gesundheit und Soziales die Stiftung. Gibt es keine kriegsbeschädigten Bewerber, kann der Wohnraum in der Invalidensiedlung auch an Schwerbehinderte im Sinne des Schwerbehindertengesetzes vermietet werden. Das ist zunehmend die Regel, denn „viele alte Freunde sterben weg“, erzählt Annemarie Kallert.

Wenn dauerhaft weniger als 10 Prozent der Wohnungen mit Kriegsbeschädigten belegt werden können, wird die Stiftung ihren Zweck erfüllt haben. Ab Januar 1999 wird bereits die Wohnungsverwaltung für die Siedlung an die Gemeinnützige Wittenauer Wohnungsbaugenossenschaft (GEWIWO) abgegeben.