Verbrannte Synagogen, verlorene Biographien

Menora und Hakenkreuz: Ein Geschichtsbuch der ungewöhnlichen Art dokumentiert das ehemalige jüdische Leben in Schleswig-Holstein  ■ Von Kay Dohnke

Kiel im Jahr 1928. Zwei Knaben stehen vor der Kamera, tragen Matrosenanzüge, Matrosenmützen auf dem Kopf, Lackschuhe an den Füßen. Karl-Heinz und Leo Kufelnitzky, die Söhne einer selbständigen Mützenmacherin, posieren für den Fotografen. Ein typisch deutsches Bild, ob zur Kaiserzeit oder in der Weimarer Republik.

Angespuckt und fortgejagt

Sechs, sieben Jahre später. „Wir Jungen waren fast jeden Tag in Schlägereien verwickelt. Sehr oft schickte man zu mir einen schmächtigen Jungen, meist den Schwächsten der Klasse. Er beschimpfte und bespuckte mich, und wenn ich ihm dann eine Ohrfeige gab, kamen die anderen und riefen: ,Du feiger Judas, vergreifst dich an den Schwächeren.'“

Solche Ereignisse aus einer Kieler Volksschule wären wohl als etwas rauhe Hänselei einzustufen, wenn es im Originaltext nicht „Wir jüdischen Jungen“ hieße – und so werden die Erinnerungen von Karl-Heinz Kufelnitzky zur Facette eines empörenden Bildes, wie nach 1933 in Schleswig-Holstein auch unter Kindern Antisemitismus und Diskriminierung an der Tagesordnung waren.

Ortswechsel, Wyk auf Föhr:

Schüler bilden ein Spalier; Kinder gehen hindurch zu einem Schiff an der Mole. Die Schüler bespucken die anderen Kinder, bewerfen sie mit Steinen. Es ist der 11. November 1938, der Tag der „Judenaustreibung von Föhr“ – die letzten Bewohner des jüdischen Kinderheims Weinberg werden von der Insel verjagt. Ein Lehrer hatte zuvor in verschiedenen Klassen zur Beteiligung aufgerufen. Er mußte Belobigungen versprechen, als sich zu wenige Schüler freiwillig meldeten. In der vorhergegangenen „Kristallnacht“ haben Wyker Einwohner die Fenster eines zweiten, inzwischen leerstehenden jüdischen Kinderheims zerstört.

Provinz – typisch deutsch

Szenen aus der Provinz, Bilder aus Schleswig-Holstein – und ebenfalls typisch deutsche Bilder. Auch wenn sie aus einer Gegend stammen, deren jüdisches Leben längst in Vergessenheit geraten ist. Und doch haben in vielen Städten und Orten Schleswig-Holsteins Juden gelebt, hat sich hier die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts auf grausame Weise vollzogen – oder genauer: wurde von den Behörden und Bewohnern des Landes vollzogen.

Sechzig Jahre nach den Pogromen der „Reichskristallnacht“ erinnert nun ein bemerkenswertes Buch an die vergessene Bevölkerungsgruppe, die auch im Norden unterdrückt und verfolgt, vertrieben, deportiert, ermordet wurde. In fast 60 Beiträgen rekonstruiert Menora und Hakenkreuz die Geschichte von Juden in und aus Schleswig-Holstein, Lübeck und Altona zwischen 1918 und 1998. Der Band entstand in Zusammenarbeit des Institutes für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte in Schleswig mit dem Joseph-Carlebach-Institut in Ramat Gan, Israel.

Die 40 beteiligten Autorinnen und Autoren aus der Bundesrepublik, Israel und den USA – unter ihnen auch jüdische EmigrantInnen – haben nicht nur aufwendig recherchiert, sie können vor allem eines: Geschichte anschaulich erzählen. Und so geht es in diesem Band weniger um große Zuordnungen, um abstrakte Zahlen und Statistik, um distanzierte Interpretation von Vergangenheit. Im Mittelpunkt stehen immer konkrete Menschen, und man merkt den Texten das Engagement an, mit dem das Leben dieser Menschen rekonstruiert, dem Vergessen entgegengearbeitet wird.

Der Kibbuz bei Flensburg

Das Buch schildert auch weitgehend unbekannte Aspekte jüdischen Lebens, erzählt beispielsweise von den Kibbuzim der „Hechaluz“, in denen sich jüdische Jugendliche auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiteten und dafür vor allem landwirtschaftliche Grundausbildungen absolvierten und Hebräisch lernten.

Auf Gut „Jägerslust“ bei Flensburg und dem „Brüderhof“ bei Harksheide entstanden zionistisch-sozialistische Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, die auf schleswig-holsteinischem Boden ausprobierten, was in Palästina klappen sollte: Der autarke Aufbau eines eigenen Staatswesens. Immerhin bis in den Herbst 1938 ließen die Machthaber diese auch im übrigen Reich und dem Ausland existierenden Ar-beitskommunen gewähren, bis sie nach der Pogromnacht aufgelöst wurden.

Mitmachen und widerstehen

Schleswig-Holsteins jüdische Geschichte nach 1933: Die wesentlichen Stationen und Phasen sind aus der allgemeinen deutschen Geschichte bekannt. Näheres Hinschauen zeigt aber erstaunliche Differenzierungen und – bei allem Mitmachen – auch ungewöhnliche Phänomene. So etwa beim Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933. Trotz oder gerade wegen der Propagandahetze in den NS-Zeitungen kam es in mehreren Städten zu Widerstand gegen die Blockaden der SA. Die Kieler Arbeiterschaft besuchte an jenem Tag nun gerade das jüdische Kaufhaus Jonas, das Hunderte Kunden zählte. In Elmshorn und Itzehoe organisierte die SPD breiten Widerstand der Bevölkerung. Manchmal hatten die Leute eigentlich kein Geld, um wirklich etwas zu kaufen; demonstrativ gingen sie an den SA-Männern mit Hetzplakaten vorbei ins Geschäft – und heimlich durch die Hintertür wieder hinaus.

Gesten der Solidarität gab es am 10. November 1938 kaum noch. Als in Kiel und Lübeck, in Friedrichstadt, Bad Segeberg und Rendsburg die Synagogen und Betsäle gestürmt und verwüstet, die Scheiben jüdischer Geschäfte eingeworfen und die Warenvorräte geplündert wurden, schritt kaum ein „Volksgenosse“ ein. Zu stark hatte sich inzwischen offenbar die Hetzpropaganda ausgewirkt, und zudem hatten die Nazis ihre volle Gewaltbereitschaft oft unter Beweis gestellt. Wer mit den bedrängten und angegriffenen Juden fühlte, verspürte inzwischen auch eine ganz andere Angst vor dem Regime.

Heimliche Hilfe

Trotzdem gab es Hilfe, wenn auch nur heimlich und höchst selten – die Wirkung aber war groß. Käthe Frieß, Mitte April im Arbeitserziehungslager Nordmark der Kieler Gestapo inhaftiert und zu Zwangsarbeit eingesetzt, legt davon ein bewegendes Zeugnis ab. Einmal gab ihr eine flüchtige Bekannte Lebensmittel, ein halbes Brot und etwas Butter: „Frau Böttcher, haben Sie noch heute tausend Dank für die grosse Liebe, die Sie mir entgegengebracht haben! Ich habe jeden Tag sehnsüchtig nach ihr ausgeschaut, und das gab mir ein Ziel, und jeden Morgen wanderte ich in dem Gedanken los, vielleicht treffe ich sie heute.“

Auch aus anderen Gegenden des Landes sind Unterstützung und Hilfe für verfolgte Juden überliefert – vom Gestapo-Mann aus Flensburg, der Verhaftete laufen ließ, dem Bürgermeister von Arnis, der drei Jüdinnen versteckte, und sogar aus Wyk: Hatten einige Bewohner der Insel den dortigen jüdischen Heimkindern so übel mitgespielt, so erhielten später eine „Volljüdin“ und eine zur Kategorie der „Halbjuden“ gerechnete Familie von den Gemeindebehörden – entgegen der geltenden Verordnungen – volle Lebensmittelbezüge und die üblichen Sonderzuteilungen.

Das Bild der NS-Zeit in Schleswig-Holstein zeigt – je genauer man es betrachtet – vielfältige und teils widersprüchliche Züge. Diese Brüche, diese Ungereimtheiten differenziert aufzuzeigen, ist eine der Stärken des Bandes. Das Leben der Juden in der Provinz, so ein Fazit, bot Gefahr und Schutz zugleich – weil die Anonymität geringer war, sich die Menschen besser kannten, waren die Opfer der Verfolgung leichter auszugrenzen, und zugleich sorgte gesellschaftliche Integration für eine höhere Aggressionsschwelle gegenüber den Juden, die als dazugehörig angesehen wurden.

Menora und Hakenkreuz erzählt von zerstörten und vergessenen Synagogen, sichert fast verlorene Biographien, rekonstruiert verschleierte Verantwortung, deckt verheimlichte Vorgänge auf. Auch dem jüdischen Leben bis in die Gegenwart ist ein großer Abschnitt gewidmet. Der rundum gelungene und ausführlich bebilderte Band kann als beispielhafte Umsetzung wissenschaftlicher Forschung in allgemein zugängliche Darstellung gelten – er ist ein Geschichtsbuch ganz besonderer Art geworden.

Gerhard Paul, Miriam Gillis Carlebach (Hrg.): Menora und Hakenkreuz. Zur Geschichte der Juden in und aus Scheswig-Holstein, Lübeck und Altona 1918-1998. Neumünster: Wachholtz Verlag 1998. 943 S. m. zahlr. Abb., 78 Mark