Loch Ness der Theaterwelt

■ Jean-Marie Patte macht seit 40 Jahren jenseits des Betriebs hochgelobtes Theater in Frankreich. Jetzt gibt er erstmals ein Gastspiel

Wehe dem Regisseur, der nie mit Schauspielern und Intendanten in Künstlercafés abhängt, der Premierenfeiern meidet wie Mutter Teresa das Moulin Rouge und nach den Aufführungen stracks nach Hause rennt. Schnell schlägt ihm in Frankreichs Konversationskultur Kälte entgegen. Wenn er seine Schauspieler statt dessen zu beruflichen Treffen in speckige Vorstadtcafés bestellt, dann hat er alle Chancen, sich in der Szene unbeliebt zu machen. So einer wird in der mondänen, um sich selbst kreisenden Pariser Theaterlandschaft zwangsläufig zum Nachtschattengewächs. So einer, das ist Jean-Marie Patte, und der hat, zur Bestrafung, weder eine feste Kompanie noch eine Spielstätte oder ein Budget. Und das, obwohl er mit Jack Lang gut stand, ganz wie mit Maria Casares, Roger Blin, Jorge Lavelli und mit Roberto Rossellini.

So einer schafft es denn auch nicht, mit seinen bald sechzig Jahren, von denen er vierzig Jahre auf den Bühnen aktiv war, sich wie die anderen seiner Generation den Chefsessel eines Centre Dramatique National zu sichern. Obwohl er periodisch auf den größten Festivals zu Gast war, vom Festival d'Avignon bis zum Festival d'Automne. Obwohl seine Stücke bis heute Pflichtbesuche aller Theaternarren sind – er aber erst jetzt zum ersten Mal mit einem seiner Stücke auf Tournee geht.

Jean-Marie Patte ist ein lebendes Paradox, eine Art Misanthrop von Loch Ness. Einer, der eigentlich nicht existiert und doch immer wieder auftaucht aus „dem Nordosten von Paris“, den er angeblich nur selten verläßt. Überleben kann er im Theater nur dank des Wohlwollens einiger treuer Freunde. Die Subventionstöpfe des Hofstaates kann sich solch ein Eigenbrötler nicht erschließen. Darum sitzt jetzt ein Georges Lavaudant, der einst ganz im Stil von Jean-Marie Patte inszenierte und durch Theaterarbeit das Establishment herausforderte, im Chefsessel des ThéÛtre de l'Odéon. Und Jérôme Savary, der in den Siebzigern mit seinem Grand Magic Circus die Städte sprengen wollte („Macht kaputt, was euch kaputt macht“), raucht seine Zigarren heute hinter Stein und Glas in einer Festung namens Palais de Chaillot, mit Blick auf den Eiffelturm.

Patte kämpfte in den Sechzigern und Siebzigern ebenfalls extrovertierte Schlachten gegen das etablierte Sprechtheater, Schulter an Schulter mit dem Living Theatre. Doch dann unterlief ihm gleichsam eine Implosion. Zu unscheinbar ist er heute, zu scheu. Ein Mann, der die Hälfte seines Gesichtes am liebsten hinter einer schützenden Handbewegung versteckt. Dem die Rolle des mediengewohnten Intellektuellen fremd ist. Und der doch als einer der belesensten, gebildetsten Theaterschaffenden im Lande gilt. „Nichts als Verletztheit durch das Leben“, charakterisiert er sich und sein Theater. Alles kann ihn erschrecken. Daher schützt er sich auf fast skurrile Weise vor Indiskretion.

Seinen Lebenslauf und seine Bibliographie hütet Jean-Marie Patte in Frankreich wie ein Staatsgeheimnis. Über ihn ein Porträt zu schreiben grenzt an Voyeurismus und Verrat an der ungeschriebenen Abmachung, daß wer ihn der Neugier der Medien ausliefert, sich schuldig macht an dem Zerbrechen eines Mysteriums, am Schwinden der Schaffenskraft dieser hypersensiblen Person. Zu schreiben ist über seine Stücke, mehr nicht. Kritik wird vorsichtig formuliert, und wenn sie dennoch kommt von einem alten Bewunderer, dann entschuldigt der sich am Anfang und am Ende und setzt in der Mitte Fragezeichen. Vielleicht sei er ja von sich selbst enttäuscht und nicht von Patte, meint der Mann des Figaro. Das ist Pattes einsames Privileg. Auf die Mnouchkine, die zu Pattes Bewunderern zählt, wird bei jeder Gelegenheit munter eingedroschen.

Von Patte erwartet man noch immer ein „anderes Theater“, ohne Axiome wie Text, Autor, Regie. Wenn er dann plötzlich etwas zusammenstrickt, das richtig nach Theaterstück aussieht, reibt man sich verwundert die Augen. So geschehen bei „Demi-jour“, dem „Dämmerlicht“, in das Patte im Januar auch das Hebbel Theater in Berlin tauchen wird. Dann halten manche die sehr konventionell gespielten Dialoge für Geschwätz und vergessen, daß Patte unter dem Mantel der Avantgarde schon immer gern Gala spielen ließ und die Schauspieler zwischen einer verklausulierten Poesie und ganz figürlichen, an Ibsen oder Hoffmannsthal erinnernden Darstellungen changieren.

Seit den Siebzigern sind Pattes Inszenierungen von der Bildenden Kunst beeinflußt, doch ohne daß er mit einer Wilson-Ästhetik, dem Nouveau Cirque oder anderen Crossovers experimentierte. Heute scheint bei ihm fast japanische Inspiration im Spiel zu sein. Manchmal erinnern seine Schauspieler an Bunraku-Puppen, erscheinen wie von unsichtbaren, höheren Kräften dirigiert und sind über Geschlechtsspezifik erhaben. Maria Casarès setzte er in Christopher Marlowes „Faust“ in der Titelrolle ein, Genets „Zofen“ ließ er von Männern spielen. Zeremonie und Musikalität der Sprache vermischen sich mit Anflügen von Botho Strauß, Hugo von Hoffmannsthal, Hölderlin, antiker Tragödie und biblischen Gesängen.

Vor einer Premiere gibt Patte nicht das geringste Detail über Inhalt oder Thema seiner Inszenierung bekannt. Das kann man für kokett halten, doch Patte spielt nicht damit. Sein Theater ist die lebende Erinnerung an die wilden Jahre, an das Unverdorbene, nicht vom System Verschluckte. Das gefällt in Frankreich, wo jeder Streik im öffentlichen Dienst von denen, die sich aus Angst nicht beteiligen, mit besonderem Wohlwollen betrachtet wird. Auch das Theater ist schließlich eine Art öffentlicher Dienst.

Bevor die Vorstellung beginnt, tritt Jean-Marie Patte gerne vor den Vorhang und monologisiert: „Spielen wir nun, oder spielen wir nicht?“ Natürlich spielen sie dann, aber mit fragendem Gestus: Was kann das Theater uns heute noch geben? Im Zeitalter von Aids ist Patte deutlich weniger dionysisch gestimmt als noch in den Siebzigern. Peter Brooks Besuche in psychiatrischen Spitälern waren durchaus eigennützig und dienten direkt der Vorbereitung von Stücken wie „L'Homme qui...“. Patte geht eher hinterher auf improvisierten Krankenbesuch, um ihm völlig unbekannten Aidskranken die Moral zu stärken.

Klar ist allein, daß in seinen Stücken der letzten Jahre vom bloßen Zuschauen niemandem etwas über die wahren Hintergründe klar wurde. Daß es in seiner vorletzten Produktion „Titre provisoire“ um Aids ging und das Sanatorium keine Nervenheilanstalt war, hatte kaum jemand verstanden. Eher hatte man eine Metapher auf das Theater vermutet, die Darstellung seines Verfalls als Hinweis auf ausbleibende Subventionen interpretiert.

Von allen lebenden Autoren schreibt Jean-Marie Patte sicher das schwierigste Theater. Seine Texte sind ohne Zeichensetzung in mysteriöser Lyrik gehalten und beziehen sich oft eng auf die Schauspieler seines Kreises, allen voran Eleonore Hirt, die schon mit Therese Giehse auf der Bühne stand und mit Beckett befreundet war.

In „Demi-jour“ spielt Eleonore Hirt die Hauptfigur, eine gealterte, blinde, gelähmte Schauspielerin. So akribisch wie Patte mit sich selbst um jedes Wort verhandelt, so genau tariert er auf den Proben die Betonung jeder Silbe aus. Daß er auch beste Bekannte noch siezt, bedeutet nicht Unnahbarkeit, sondern ist eher Respekt vor moralischen, bürgerlichen Werten. Doch vielleicht braucht gerade er Halt im Formellen, der das Theater von allen brokatenen Ornamenten befreite, so wie Jean-Claude Gallotta dem Ansatz Merce Cunninghams die Narrenkappe aufsetzte und den Tanz endgültig aus der Umklammerung der Musik löste.

Heute sind von Patte keine Theaterskandale mehr zu erwarten. Dennoch bleibt er sowohl der Tradition als auch dem Aufbruch ins Ungewisse verbunden. Er war es, der nach dem Krieg in Strasbourg das erste deutsche Stück auf die Bühne brachte. Goethe natürlich, und doch machte er sich damit viele Feinde. Sein erster Paukenschlag entstand, nach eigener Lesart, aus einem Mißverständnis. Als er einfach auf die Bühne brachte, was ihm Spaß machte, und das war natürlich 1968, empfingen ihn die Zuschauer im Lotussitz. Dabei interessierte ihn an den orientalischen Episoden im wesentlichen die Abwesenheit dramatischer Psychologie. Doch das Publikum entdeckte sie als Wegweiser zur Selbstfindung. Später stellte er an einem Juliabend des Avignon-Festivals einen Sessel auf die ehrwürdige Bühne und setzte sich hinein. Fünf Viertelstunden lang.

„Überlebt haben wir und sind Kopien von dem, was wir waren“, konstatieren die „Schauspieler von damals“ in „Demi-jour“. Denn: „Künstler sind wie Meteoriten“, verglimmen vor den Augen der Feuerwehr. Im Halbschatten. Thomas Hahn

„Demi-jour“ vom 8.–12. Januar im Berliner Hebbel Theater, Telefon: (030) 25 900 472