Am Anfang schuf Gott Irland Von Ralf Sotscheck

Unser Briefträger hatte den irren Weihnachtsblick. Er schlich gebückt durch die Siedlung und zog einen schweren Sack hinter sich her. Die Iren schreiben nämlich jedem Menschen, den sie kennen, zu Weihnachten eine Karte. Selbst unsere Nachbarn haben uns eine per Post geschickt, obwohl der Weg zum Briefkasten unendlich viel weiter ist als zu unserer Haustür, aber wer die Karten persönlich verteilt, gilt als knausrig. Der Briefträger mußte das Zeug in den Adventswochen auch samstags und sonntags austragen, manchmal sogar zweimal am Tag.

Die Karten enthalten nichts außer dem vorgedruckten Weihnachtsgruß und eine Unterschrift. Geübte Kartenschreiber bringen es auf 70 bis 80 Stück pro Stunde, einschließlich Adresse. Und jeder hält Ersatzkarten bereit, falls Post von jemandem eintrudelte, den man wider Erwarten nicht auf der Liste hatte. Wir bekamen fast 100 Karten. Hinzu kamen die Weihnachtsgrüße von Geschäften, die ihre Stammkundschaft damit bombardieren. Kauft man einen teuren Mantel, erwirbt man auch das Recht auf eine Weihnachtskarte. Mir hat der Getränkehändler eine geschickt, merkwürdig.

Was macht man mit all diesem Altpapier? Man verleiht Heiligabend einen Preis für die gemeinste und geschmackloseste Karte. Voriges Jahr gewann der schriftstellernde Hooligan Sean McGuffin aus San Francisco. Seine Karte zeigte einen kleinen Jungen, der den Weihnachtsmann dabei beobachtete, wie er Geschenke in die Strümpfe am Kamin stopfte. „Es tut mir so leid, daß du mich gesehen hast, Timmy“, sagte der gutmütige Weißbart, „denn jetzt muß ich dich töten.“

Dieses Jahr geht der Preis an die nordirische Zeitschrift The Big Buzz, die selbstentworfene Karten an ihre Kundschaft verschickt hat – eine harmlose Szene mit biblischen Figuren, denen allerdings die Köpfe der Politiker aufmontiert sind, die im Nordirland-Friedensprozeß eine Rolle spielen. Sinn- Féin-Präsident Gerry Adams, der Loyalist David Ervine und der britische Premierminister Tony Blair sind die guten Hirten, die Nobelpreisträger John Hume und David Trimble, gemeinsam mit US-Senator George Mitchell, der die Friedensverhandlungen geleitet hat, treten als heilige drei Könige auf. Und oben drüber schwebt Bill Clinton als Erzengel Gabriel.

Im Vordergrund sind die britische Nordirlandministerin Mo Mowlam und der reaktionäre Protestantenpfaffe Ian Paisley als Maria und Joseph zu sehen. In seinen Armen hält Joseph Paisley das Christuskind – den Sinn-Féin-Vize Martin McGuinness.

Das war zuviel für den echten Paisley-Sohn, der auch Ian heißt. Eine Woche zuvor hatte die Zeitschrift seinen Vater in die „Hall of Shame“, die Schandhalle, gewählt. Dafür erhielt der Herausgeber Barry O'Kane eine Reihe von Morddrohungen. Nun hatte er auch noch den kleinen Paisley am Hals. Der bekam einen Wutanfall, bezeichnete die Weihnachtskarte als „blasphemisch“ und wetterte: „Sie ist böse und übel, und das zu einer Zeit, in der wir auf die zentrale Figur von Weihnachten blicken sollten.“ Auf Vater Ian? Nein: „Auf Christus.“ Der Innentext der Karte lautete: „Am Anfang schuf Gott Irland, und er sah, daß es frei von Unterhaltung war.“ Dann schuf er vermutlich den Paisley- Clan.