Berliner Ökonomie
: Schrei in Beton

■ Mahnmale zu Spielplatzschnecken und ein Gedicht darauf: Alltag eines Kunstwerks

Es war Herbst, als ich bei der Eröffnung einer Ausstellung an der Berliner Hochschule der Künste den russischen Bildhauer Sergej N. kennenlernte. Ein Mann von fünfunddreißig Jahren, ruhig, selbstbewußt und solide. Wir freuten uns beide, denn es ist immer gut, einem Landsmann im Ausland zu begegnen, dazu noch einem Künstler. Mit strahlenden Augen erklärte mir Sergej sein Werk. Dabei deutete er an, daß er seit Jahren nur mit Beton arbeite, leichtere Materialien würde er mißachten. Sein Werk hieß „Mutterherz“ und stellte eine mittelgroße Muschel mit einem Punkt in der Mitte dar, von dem aus mehrere Strahlen nach außen gingen. Ich merkte sofort, daß Sergej ein sehr begabter Mann war. Das Mutterherz wirkte wie ein gigantisches Fragezeichen an die ganze Menschheit: Warum? Ein Herz aus Beton, daß Leid der Materie und die Leidenschaft des Steins.

Wir tranken zusammen Tee und unterhielten uns über Kunst. Ich fragte Sergej nach der Bedeutung seines Werks. Er schüttelte den Kopf und sagte: „Laß uns lieber Wodka trinken gehen!“ Später vergaß ich die geheimnisvolle Muschel – ich hörte auf, an sie zu denken. Inzwischen wurde es Winter, der erste Schnee fiel. Sergej rief mich an und erzählte folgendes: Er hatte seine Muschel bei dem großen Wettbewerb für das Holocaust-Denkmal angemeldet. Sie sollte den konzentrierten Schmerz der Menschheit symbolisieren, einen in Beton eingegossenen Schrei. Ich konnte mir die Muschel sehr gut als Holocaust-Mahnmal vorstellen. So trafen wir uns, denn diese Nachricht erforderte eindeutig eine Diskussion. Wir unterhielten uns über Kunst, tranken Tee und wechselten dann zu Wodka.

Mehrere Wochen danach erfuhr ich von Sergej, man habe sein Werk abgelehnt, unter dem Vorwand, es sei zu klein für ein zentrales Holocaust-Mahnmal. Trotzdem verlor er nicht die Hoffnung, irgendwann für seine Muschel den richtigen Platz zu finden. Ich dachte anschließend noch eine Weile, besonders beim Teetrinken, über Kunst heute nach, doch dann vergaß ich die Geschichte und hörte auf, darüber zu grübeln.

Der Frühling kam, die Tage wurden wärmer, Sergej rief mich an. Er hatte eine Einladung aus Prag bekommen: Seine Muschel sollte als Denkmal zur Erinnerung an die Massenvergewaltigungen tschechischer Frauen durch sowjetische Soldaten bei ihrem Einmarsch in die ČSSR 1968 aufgestellt werden. Sergej fragte mich, ob es günstiger wäre, die Muschel mit einem Lastwagen oder mit der Bahn nach Prag zu verfrachten. Wir verabredeten uns zum Tee, saßen eine Weile zusammen, unterhielten uns über Kunst. Und wollten sogar schon zusammen nach Prag fahren. Es kam aber dann doch nicht dazu. Zwei Wochen später erhielt Sergej eine Absage: Aus finanziellen Gründen sollte das Ganze noch einmal überdacht werden. Zu Hause blätterte ich eine Weile in Kunstzeitschriften, hörte dann aber wieder damit auf und widmete mich dem Alltag.

Endlich wurde es Sommer. Die Bäume bedeckten sich mit Blättern und die Wiesen mit Gras. Sergej bat mich, ihm zu helfen, seine Muschel nach Hamburg zu transportieren, wo sie auf einer Erotikmesse das unerfüllte Verlangen nach Vaginalkontakten ausdrücken sollte. Wir hatten eine tolle Zeit in Hamburg. Rund um Sergejs Meisterwerk sammelten sich Männer und kratzten am Beton. Eine Frau mittleren Alters blieb stehen, als sie die Plastik sah, errötete und warf unsichere Blicke um sich. Nach ein paar Tagen fuhren wir wieder zurück nach Berlin – mit der Muschel im Anhänger. Wir waren beide verkatert, unsere Wege trennten sich. Eine Zeitlang erinnerte ich mich noch an Hamburg, dann vergaß ich die Erlebnisse dort.

Es wurde Herbst, die Tage wurden kühler, die Straßen menschenleerer. Ich lief ziellos durch die Stadt, auf einmal stand ich vor einem Abenteuerspielplatz im Wedding. Die Kinder klebten an einer riesigen Schnecke, die aus dem Sand herausragte. Trotz frischer Farbe erkannte ich sofort das alte „Mutterherz“. Es gibt Dinge, die man nie vergißt. Als Schnecke auf dem Spielplatz sah sie herrlich aus. Auch die Kinder schienen glücklich. Sergej konnte mit sich und der Welt zufrieden sein. Ich ging beseelt nach Hause – und summte vor mich hin:

Womöglich hier,

Vielleicht auch da.

Ist er mir kürzlich erst erschienen,

Von niemandem noch eingesackt.

Wladimir Kaminer/Ilia Kitup