Christoph Biermann
: In Fußballand

■ Nutzt die heilenden Kräfte der schönen fußballosen Zeit: Vergeßt Icke!

Plötzlich konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, wie der holländische Libero heißt, den der Hamburger SV im Herbst für 3,1 Millionen Mark (immerhin den Betrag hatte ich noch im Kopf) von Twente Enschede (und den Klub!) verpflichtet hatte. Und wie war noch gleich der Name des bosnischen Stürmers in Bochum, der beim Bundesligasieg des VfL in Kaiserslautern ein Tor erzielen konnte? Solch komplexe Dinge zu erklären wie den Erfolg des VfL Wolfsburg, war ich völlig unfähig. Ja gut, mußte ich auch nicht parat haben, aber irgendwie waren die Fragen da, und ich konnte sie nicht beantworten.

Das wäre nun alles vielleicht der aufkommenden Zungengrund-Angina zuzuschieben gewesen, die ihre zersetzenden Vorboten bereits durch den Körper schickte und für Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Erinnerungslücken und Konzentrationsschwäche sorgte. In Wahrheit war aber wohl doch eher die Winterpause daran schuld, also die sofortige Verbannung aller momentan nicht benutzbarer Fußballinformationen im Zwischenspeicher des Gehirns. Ein Vorgang, bei dem die Herren Hoogma vom HSV und Dzafic aus Bochum offensichtlich verlorengegangen waren. Und ehrlich gesagt mußte ich einen kurzen Moment lang sogar überlegen, ob der VfL Wolfsburg wirklich in der Bundesliga spielt. Waren die nicht abgestiegen bzw. eigentlich nie aufgestiegen?

Ziemlich peinliche Angelegenheit das, aber schließlich gehört es zur schönen Zeit der Winterpausenamnesie, daß auf der Arbeitsoberfläche im Kopf etwa für die Erkenntnis Platz wird, daß St. Etienne (die Band) besser ist als St. Etienne (die Stadt), ganz zu schweigen von St. Etienne (dem Fußballklub). Und daß man über die wunderschöne Bossa-Nova-Compilation „Trip To Brazil“ ganz gut das verpatzte WM-Finale im letzten Jahr vergessen kann. Es ist die Zeit der dicken Bücher, und verblüffend, aber nicht unangenehm stellt man fest, daß dieser Tage über Filme, das Leben oder den Zusammenhang zwischen beidem geredet werden kann. Und nicht über Fußball.

Es geht also um aktives Vergessen. Nur Icke durfte man nicht vergessen, so sehr man auch wollte. Ständig wurde man an Thomas Häßler erinnert. Herumgezogen und gezuppelt haben sie an dem kleinen Mann, ihn während der Winterpause hierhin oder dorthin transferiert und zum Gegenstand diverser „So darf man mit unserem kleinen Icke nicht umgehen“-Wortmeldungen gemacht – vor allem von Bild und deren Angestellten (F. Beckenbauer). Schon vorher war an gleicher Stelle so getan worden, als wäre das Foto vom Reservisten Häßler, der für seine Dortmunder Mannschaftskameraden vor der Verlängerung eines Pokalspiels den Wasserkasten aufs Feld trägt, ebenso herzzerreißend wie das eines siebenjähriger Guatemalteken, dem Hurrikan „Mitch“ gerade Vater und Mutter hinweggespült hat.

Thomas Häßler steht für die größte Annäherung ans Kindchenschema, das man hierzulande im finster-bösen Profigeschäft haben kann, denn ihm will selbst sein härtester Gegenspieler am liebsten nur den Kopf tätscheln. Und mehr als Kohler und Matthäus ist er fürs Publikum letzter aktiver Erinnerer an eine Zeit, in der Deutschland Weltmeister werden konnte, und das nicht nur mit deutschen Tugenden zu tun hatte. Sondern auch mit Icke-Spielwitz, Icke-Trickschüssen, Icke-Dribblings, also weitgehend nettem Fußball, kongenial gespiegelt im anderen Dingsda-Kicker, Pierre Littbarski. Das war eine schöne Zeit, wenn auch eine für Icke etwas tragische. Denn am kleinen Nintendo-Freund wurde die deutsche Sehnsucht nach dem großen Dirigent des Spiels, dem Spielmacher, ausagiert, der Häßler eigentlich nicht ist und nie war. Also blieb Häßler ganz oft unter den Erwartungen, weil von Häßler etwas anderes als Häßler erwartet wurde. Und das ist eigentlich eine noch viel traurigere Geschichte, als in Dortmund auf der Bank zu sitzen und Flaschen auf den Platz zu tragen. Darum: Vergeßt Icke, solange noch Winterpause ist. Er wird es uns danken.