Nicht abschwören, sondern mitschwören

Ethik und Politik verschwinden in der Schweiz im immer größeren Bereich sozialer Transparenz. Nirgendwo bleiben Widersprüche, selbst der Fußball kennt keine verfeindeten Fans mehr. Auch wenn man es nicht wahrhaben will – dies ist europäische Avantgarde!  ■ Von Tobi Müller

Mit „Hinter den sieben Gleisen“ schuf der Regisseur Kurt Früh 1959 einen seiner vielen Schweizer Filmklassiker. Drei Penner entwickeln plötzlichen Arbeitseifer, um einer alleingelassenen Frau mit Kleinkind zu helfen. Inzwischen gibt es zwar mehr als sieben Gleise, doch die Anziehungskraft der Stadtkreise 4 und 5 hinter dem Zürcher Bahnhof scheint ungebrochen. Nicht nur Prostitution und die unterschiedlich offene harte Drogenszene nisten sich besonders „im Vieri“ ein, auch hippe „Freitag“-Taschen aus alten Lkw-Planen sieht man dort besonders häufig, was heißt: Ausgesuchte Intellektuelle aus Kunst und Kommunikation und wir alle, die es noch werden wollen.

Und weil Zürich nur mit viel Umland und nach vier Bier eine (Ein-)Millionenstadt genannt werden darf, ist dieser zahme Zoo in fünf Minuten vom Bahnhof und seiner Renommierstraße zu erreichen. Nun denn, trauen Sie sich ins andere Zürich, steigen Sie in den 31er Bus Richtung Schlieren. Aber Achtung: „Heissi Marroni“ heißt da nicht mehr heiße Kastanien wie überall auf der Bahnhofstraße, sondern Heroin.

Wenn Sie Glück und Geld haben, gelingt es Ihnen, vor einer staatlichen Drogenabgabestelle einen Junkie auf ihre Digitalkamera zu bannen, der Ihnen für ein paar Valium aus dem Kulturbeutel eine kleine Volksweise singt. Keine Angst, beißen tut bei so astreinem Stoff, wie ihn erlesene Süchtige umsonst kriegen, keiner mehr. Warum auflehnen, wenn ein knappes Drittel der Schweizer Stimmberechtigten eben erst für die Legalisierung harten Drogenkonsums votiert hat?

Gegen etwas sein, also auch für etwas sein, ist in der Schweiz nämlich ungemein schwierig. Ethik und Politik, die Bereiche des radikalen Handelns, verschwinden im immer größer werdenden Raum der sozialen Transparenz. Alles ist eins, dachte man erschrocken, als selbst Schlingensiefs Basler Dreitageaktion nicht funktionierte. Zum einen, weil der Chance-2000-Troß nicht eben viel Interesse am Lokalen zeigte und bloß deutsche Befindlichkeit exportierte, zum andern aber auch, weil in Basel die Häresie, das Politische, voll in die offenen Arme des Gemeinschaftssinnes lief. Schlinge wurde von offiziellen Politvertretern sofort vereinnahmt und vor den Karren der 150jährigen, sogenannt liberalen Tradition der Schweiz gespannt.

In Hamburg und Berlin konnte er noch irgendeiner Sache abschwören, in der Schweiz gibt es fast nur noch das Mitschwören, das obendrein niemanden interessiert. Daran mußte wohl auch Botho Strauß denken, als er die Uraufführung seines „Kuß des Vergessens. Vivarium rot“ dem Zürcher Schauspielhaus anvertraute. Scharfe Blätter rollten zwar kurz seinen skandalösen „Bocksgesang“ von damals im Spiegel auf, doch politisch interessierte das keinen. Die Inszenierung selbst war dann sehr schön und weich.

Eine Nische der Ethik bietet überall sonst immerhin noch der Fußball, gerade für Intellektuelle. Der verfeindete Fan ist ein Arschloch und fertig. Nicht aber in einem Land, das kaum noch Satiriker verzeichnet, weil sich schon alle selbst parodieren. Sogar Fußballfans. Auch im 31er Richtung Schlieren. Auf dem Weg ins Letzigrund Stadion, wo der FC Zürich gegen die AS Roma im Uefa-Cup spielte, wurde erst noch standesgemäß gegrölt und gesoffen. Zwei Romafans verdrückten sich in einer Ecke. Unvermittelt kollegial erkundigt sich dann aber ein eingefleischter Z-Fan, ob sie denn auch warm genug angezogen seien. Und dies auf italienisch, deutsch und französisch! Kein Widerspruch, ja nicht einmal der regelrechte Antagonismus greift hier mehr. Er kann nur noch inszeniert werden.

Ähnlich Niedliches schleicht sich – aus Sicht des transparenten Eidgenossen – in das neue Berlin ein, früher oder später also auch in die ganze deutsche Republik. Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz beispielsweise wirbt seit der Berlinbefindlichkeitsfabel „Terrordrom“ mit schönen, jungen, reichen Menschen auf farbig glänzendem Papier. Berliner finden das „aufgesetzt“ und „aufgepappt“, doch spätestens nach einem Sonntagsspaziergang über den Potsdamer Platz ist der Transparenztheoretiker genau damit wieder bei sich zu Hause angekommen. Aufgepappt, was denn sonst! Hinter der Pappe klafft die Leere, die Pappe ist die eigentliche Substanz – da ist kein spitzfindiger Aufklärungsbedarf vonnöten.

Weder im Theater, wo Berlin als wuchernde Erzählung deklariert wird, noch auf dem Potsdamer Platz, wo sich das Kapital unverhüllt seine Kathedrale errichtet hat. Das debis-Gebäude kann ja nichts anderes sein, komplett mit zwei Seitenschiffen. Besonders gelungen: In der Mitte des sakralen Raumes befindet sich eine Schrottskulptur des verstorbenen Schweizer Eisenplastikers Jean Tinguely. Auch der Abfall als Metapher für das Andere wird hier hübsch vereinnahmt. Und warum noch Auflehnen, wenn selbst Aldi in den Arkaden (oder eher: in Arkadien) einen Platz kriegt? Immerhin, fürs erste im Untergeschoß.

Derart verschweizerte Räume sind um so cleverer, als sie sich selbst parodieren und so für die postmoderne Schutzdichtung sorgen. Der Schweizer Junkie, der kurz nach der Schließung des restlos einsehbaren, gigantischen Drogenumschlagplatzes Letten in besagten 31er stieg und laut behauptete, ihn gäbe es jetzt gar nicht mehr und ob es stimme, daß die Dealer von nun an vorne beim Fahrer säßen, ist nur ein Beispiel von unten. Es gibt sie natürlich auch oben.

Bundesrat Ogi etwa aus dem voralpinen Kandersteg. Dem ersten Schweizer Astronauten im Orkus, Claude Nicollier, schrie Ogi als damaliger Verkehrsminister vor Jahren ein nationales „Freude herrscht, Herr Nicollier!“ in den Helm. Die Schweiz lachte böse über den einfachen Berner Politiker, flugs wurde ein Technotrack mit dem „Freude herrscht“-Sample produziert. Und Ogi wurde lange Zeit nicht müde, sein staatspolitisch wichtigstes Sätzchen endlos zu wiederholen. Mit breitestem Grinsen. Heute steht er unter anderem dem Militär vor.

Aus aktuellem Anlaß noch dies: Pipilotti Rist hat die künstlerische Leitung der Schweizer „expo.01“ gerade erst aufgegeben. Gründe mag es viele geben, eines aber ist klar: Die international renommierte Videastin hat eingesehen, daß ihre „Verrücktheit“ bloß als ästhetisches Etikett interessierte, als kokettes Label der Parodie, nie als politisches Statement tatsächlicher Offenheit. Aber auch dies haben natürlich alle schon immer gewußt.

Niemand regt sich auf – it's cool: Schlingensief wird es schwerhaben nach seiner Rückkehr aus Afrika, oder er mutiert zum harmlosen Spaßmacher im verschweizernden Deutschland. Paola und Kurt Felix hatten wir schon lange vor Guildo Horn, und ein fettleibiger, langhaariger Politiker und bekennender Kokser verstank den Schweizer Nationalrat bereits, als Joschka Fischer tatsächlich noch Turnschuhe trug. Die Schweiz ist oft langweilig und diskussionsarm, aber sie ist die europäische Avantgarde.