Jenseits des Hundezwingers

■ Bomben auf Bagdad (3). Wer die UNO auf den Müllhaufen der Geschichte wirft, redet einem internationalen Neofeudalismus das Wort

Derzeit scheint die deutsche Außenpolitik nur von einer Frage umgetrieben zu werden: Gibt es neben der Gefolgschaft zur USA noch einen Spielraum für eine eigene Politik? Die neue Regierung ist noch nicht einmal hundert Tage alt und hat schon dreimal krähen müssen – mit immer schwächerer Stimme: der Nato-Einsatz ohne UN-Mandat im Kosovo, die Blockierung der Entnuklearisierung der Nato-Strategie und die erneute Bombardierung des Irak.

Alle drei Entscheidungen gehören zusammen und zeigen die Schärfe eines Hobels, mit dem sich die USA derzeit die Welt zuschnitzen. In allen drei Fragen gab es zumindest im grünen Teil der Koalition Stimmen, die eine andere Wendung der Außenpolitik bevorzugt hätten. Doch das Kontinuitätsgelübde von Fischer hatte von vornherein wenig Selbständigkeit übriggelassen. Was Trittin bei den Kernkraftwerken der internen Koalition immerhin zumutet, wagt Fischer in der militärischen Nuklearfrage den Nato-Verbündeten nicht zu bieten. Ihm ist in der Umarmung von Albright offensichtlich die Luft ausgegangen.

Warum ist es so schwer, die Fesseln der außenpolitischen Lehnsherrschaft aus der Kohl-Ära etwas zu lockern und – auf der Basis des Völkerrechts – aufrechten Ganges das Terrain der Weltpolitik zu betreten? Schon 1989/90 gab es die Hoffnung auf friedenspolitische Alternativen. Der Untergang der Sowjetunion hatte dem Westen die Hände freigegeben, die „Friedensdividende“ einzustreichen: Abrüstung und Aufbau ziviler Institutionen der Konfliktverhütung. Das meiste davon ist im Sog des neuen Unilateralismus der USA und ihrer etwas einseitigen Vision einer neuen Weltordnung untergegangen.

Bereits der zweite Golfkrieg von 1991 war unter Umständen zustande gekommen, die zwar formal noch auf dem Mandat des UN-Sicherheitsrats beruhten, aber bereits alle Anzeichen einer Erpressung trugen. Die USA hatten schon damals angedeutet, daß sie in Zukunft notfalls auf die UNO verzichten würden. Und der dritte Golfkrieg war der Vollzug dieser Androhung, der sich bereits in den Cruise missiles auf den Sudan und Afghanistan angekündigt hatte.

Das Credo dieser neuen Weltordnung ist die humanitäre bzw. friedenstiftende Intervention, auf die die USA die Nato immer stärker verpflichten möchten. Dieses Instrument reiner Machtpolitik war bereits vom Völkerrecht als das geächtet worden, was es im Kern ist: militärische Durchsetzung nationaler Interessen.

Schon 1983 glaubte niemand den USA, daß die Grenada-Invasion eine „humanitäre Intervention“ war. Wenige Jahre zuvor noch hatten sie die Befreiung Kambodschas vom Pol-Pot-Regime durch Vietnam als Anlaß zum Boykott des Landes genommen, weil sie eine humanitäre Intervention als Rechtfertigung nicht gelten lassen wollten. Das Schindluder, welches mit diesem Instrument getrieben wurde, hatte es definitiv aus dem Katalog möglicher Rechtfertigungsgründe ausgesondert.

Wer eines weiteren Beweises bedurfte, sollte sich den völkerrechtlichen, aber auch politischen Irrwitz des Überfalls auf Bagdad vor Augen halten. Wie kann man ein Regime zur Einhaltung der UN-Resolutionen mit Maßnahmen zwingen, die ihrerseits den Sicherheitsrat aushebeln und dem Völkerrecht hohnsprechen? Wie kann man die Staaten dieser Welt auf ein Völkerrechtssystem verpflichten, dem man die Gefolgschaft selbst verweigert? Welche Reaktionen wird man in Zukunft von Rußland und China erwarten können, deren Veto im UN-Sicherheitsrat derart offensichtlich ausmanövriert wurde? Das hat es nicht einmal im Koreakonflikt gegeben.

Die Alternative ist nicht die zwischen einer auf Konsens beruhenden Weltföderation und der Unterwerfung unter die Befehlsgewalt einer Weltmacht, wie es Sibylle Tönnies kürzlich in der taz nahelegte. Schließlich leben wir nicht im Hundezwinger, in dem die Unterwerfung in der Tat von Nutzen ist. Und wer uns einen derartigen Akt als Realismus schmackhaft machen möchte, sollte das nicht mit Hobbes' Autorität tun. Es führt allemal in die Irre, wenn Großdenker der Vergangenheit in mageren Zeiten funktionalisiert werden, um Probleme zu lösen, die sich nur aus den Widersprüchen der heutigen Weltgesellschaft lösen lassen.

Was Hobbes angeht, so war sein Problem der Frieden im eigenen, angelsächsischen Land. Den Frieden zwischen den Ländern, zwischen den Leviathanen, streifte er nur am Rande. Zwischen den Staaten herrschte für ihn ebenso wie zwischen den Menschen der Krieg aller gegen alle. Denn wo keine überstaatliche Macht existiere, dürfe man auch keinen allgemeinen Frieden zwischen den Staaten erwarten. Um aus diesem kriegerischen Zustand herauszukommen, empfahl er aber nicht die Unterwerfung unter einen Groß-Leviathan. Er stellte auch insofern den naturwüchsigen Zustand zwischen den Staaten dem zwischen den Menschen gleich, als beide mit einem aus Todesfurcht und Vernunft zu entdeckenden Naturgesetz überwindbar seien. Diese Naturgesetze schrieben den Souveränen vor, was sie zu tun und was sie zu unterlassen hätten, um den Frieden zwischen den Staaten herzustellen, so wie sie den Bürgern vorschrieben, was im Interesse des innerstaatlichen Friedens zu tun sei. Nicht mehr, aber das war klar.

Und hieran knüpfte ausdrücklich Kant an, wenn er die Überwindung des zwischenstaatlichen Natur- und Kriegszustandes zum zentralen Anliegen seiner Friedensphilosophie machte und zur Weltföderation der Staaten riet. Der antifeudale Hobbes hatte also das von den Spätscholastikern aufgetürmte universalistische Völkerrecht einer Weltgesellschaft unter letztlich einem Oberhaupt zerstört. Der Weltbürger Kant setzte Hobbes' rationalistischen Weg fort und führte ihn zu einem Weltgebäude, in dem Völkerrecht, Weltbürgerrecht und Menschenrechte die Ordnung führen.

Warum zurück in die Leibeigenschaft eines internationalen Neo- feudalismus? Es war ein großer US-Präsident, der diesen Rückfall verhindern und das Gebäude Kants errichten wollte: der Neokantianer Woodrow Wilson. 1918 bezeichnete er das „freie Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ als einen Grundsatz, „auf dem die ganze moderne Welt beruht“. Kurz zuvor hatte er in seinen berühmten 14 Punkten den Völkerbund in den Mittelpunkt gestellt.

Gewiß, der Völkerbund ist gescheitert. Aber es ist des Nachdenkens wert, daß die Staaten nach 1945 wieder zu einer Weltföderation griffen, um eine dauerhaftere Friedensordnung einzurichten. Sollte auch die UN scheitern – woran gearbeitet wird –, wird es dennoch keine Alternative geben.

Denn mit jeder politischen Niederlage der UNO und erfolgreichen militärischen Sanktion mag zwar die Claque der Großmacht größer werden, aber der Widerstand der Nationen auch. Das Selbstbewußtsein der Staaten verträgt einen derartigen Großmacht- Hobel nicht mehr. Er führt auch nicht zur notwendigen Machtzentralisation einer interventionistischen Weltinnenpolitik, sondern zum Zerfall eines zumindest friedensfähigen Systems Vereinter Nationen. Auch die nur taktische Unterwerfung unter den Interventionismus der USA bewirkt nicht nur den Verlust der politischen Eigenständigkeit, sondern auch die Untergrabung der Friedensordnung. Die Dialektik von Akzeptanz und Ablehnung des Völkerrechtsbruchs besteht nicht darin, daß beide genauso richtig sind wie verkehrt, wie Tönnies meint, sondern daß sie in der gegenwärtigen Unordnung über Krieg und Frieden entscheiden.

Es ist interessant, daß Kohl/Kinkel in einem Punkt Eigeninitative gegenüber den USA demonstrierten. Die Verabschiedung des Statuts für den Weltstrafgerichtshof war auch ein Bonner Erfolg gegen den Willen der USA. Die alte Bundesregierung hat den USA damit unmißverständlich bedeutet, daß auch ihr Regierungspersonal im Falle schwerer Völkerrechtsverletzungen (zum Beispiel: Angriffskrieg) zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit gezogen werden kann. Die neue Bundesregierung knüpft nicht etwa an diese Kontinuitätslinie an, sondern reicht der US-Regierung kein halbes Jahr später zu einer derartigen Verletzung des Völkerrechts die Hand. Aus dem Kniefall kommen auch jüngere Politiker nur schwer wieder heraus. Norman Paech