Ein müder Städtesammler

Uwe Kolbe erinnert sich in Essays und Gedichten ohne Nostalgiegefühle an die untergegangene DDR und reist um die Welt, um lang Entbehrtes endlich nachzuholen  ■ Von Thomas Kraft

Die DDR existiert nicht mehr. Nachrufe und Wehklagen gab und gibt es bis heute, die Rede vom Ausverkauf der DDR und dem doch Bewahrenswerten der sozialistischen Gesellschaft auch nach der Wende ist noch gut im Ohr. Der Berliner Schriftsteller Uwe Kolbe gehörte nie zu jenen politischen Nostalgikern, die sich an die Utopie eines menschenwürdigen Sozialismus klammerten und die Reformierbarkeit des real existierenden beglaubigten. Schon 1986, am Grab seines Freundes und Mentors Franz Fühmann, behauptete Kolbe, „daß es nur noch die Möglichkeit gibt, nach diesem Scheitern zu beginnen, dieses Scheitern in seiner Tragweite und Tragik anzunehmen und darauf zu bauen“.

In seinen Essays, Reden und Artikeln der nächsten zehn Jahre bekräftigt Kolbe seine frühe Skepsis. Er erlebte die DDR als eine verdruckste Gesellschaft, die sich in strammer Selbsttäuschung romantischen Projektionen hingab und gleichzeitig völlig mut- und bewußtlos diese Politfarce zu inszenieren half. Der DDR-Staat erschien ihm als „verfaulter, immer wieder ausbetonierter Baumstamm“ und seine Bürger, auch und gerade die Intellektuellen, als Dampfplauderer von Honeckers Gnaden ohne Sinn und Verstand. Sicher, auch von Kolbes Standpunkt aus ließ es sich leben im Prenzlauer Berg und anderswo. Die bohemehafte, im Grunde unpolitische Existenz, die viele Künstler praktizierten, habe aber eine wirkliche politische Opposition verhindert und den Machthabern lange Zeit zu einem nahezu ideal funktionierenden Gefüge verholfen, in dem effektive Systemkritik ausgeblendet blieb und Ideologie statt Ideen erkauft wurde.

Kolbe nennt in seiner Analyse Namen, spart nicht mit Seitenhieben auf Christa Wolf, Christoph Hein, Heiner Müller, Wolf Biermann und andere: „Diese Dissidenten, marginale Intellektuelle des sozialistischen Ringelreihens, wurden mit ihrer unablässigen Anstrengung, den Realsozialismus, dieses geistig leere Gebäude, zu verstehen, zu analysieren, zu interpretieren und fast fundamental zu kritisieren, mehr und mehr zu den Stichwortlieferanten der Herrschenden.“ Kolbe äußert wiederholt seine Fassungslosigkeit angesichts einer Glaubensgefolgschaft, die selbst im ideologischen Mutterland Sowjetunion so nicht funktionierte. Er benennt die zeitgeschichtlichen Ereignisse, die „Renegatentermine“, die einfach wachrütteln hätten müssen: 1956 Ungarn-Aufstand, 1968 Prager Frühling, 1976 Biermann-Ausweisung, 1979 Afghanistankrieg, 1981 Solidarność, und fragt: „Wieviel bedarf es, daß ein Mensch begreift? Wie viele Termine brauchen viele Menschen?“

Dabei geht er meist von persönlichen Erlebnissen aus, von Begegnungen mit Stasi, Informanten, Schriftstellerkollegen, SED- und Verbandsfunktionären, Aktivisten vom Neuen Forum, Normalos. So vehement er Autoren angreift, die mit der Stasi zusammengearbeitet haben („Offener Brief an Sascha Anderson“, 1991) oder dem Staat sonstwie die Stange gehalten haben, so dankbar würdigt er jene „Renegaten“, die „innere und äußere Auseinandersetzungen von immenser Tiefe und Schärfe durchgestanden“ haben: Johannes Bobrowski, Uwe Johnson, Erich Arendt, Peter Huchel.

Kolbe nimmt es genau mit topographischen und poetologischen Verortungen. Die Eindrücke während einer Lesereise, die ihn 1985 ins Tessin und an den Luganer See („Ihr Schweine! Ihr wolltet, daß ich dies hier nie in meinem Leben sehe!“) führten, bleiben vermutlich ebenso unauslöschlich wie die Kindheit am „verwunschenen“ Ort Prenzlauer Berg, wie Erfahrungen im „Daimlerland“ und im ungeliebten Land der „poussierlichen Vergessenswerfer“. Aus der Angst heraus, die an Anfang und Ende des Essaybandes artikuliert wird, entstehen seine Gedichte, meist stille Momente der Vergewisserung, der erinnernden Nachbegehung vertrauten Terrains.

Vineta, jene sagenhafte, untergegangene Stadt, dient ihm als Chiffre für die alte DDR, die an ihren eigenen Widersprüchen zugrunde gegangen ist. Bereits 1990 schreibt Kolbe in einem „Vineteser Nachruf“: „Heute theoretisiert man Grenzüberschreitungen, die an ostelbischen Gestaden gerade in Vineta so gut, so beinah unbehelligt hätten stattfinden können, erprobt und durchgeführt von einer beschreibbaren Schar Sprechender.“ Versunken ist der Staat und eine Reihe seiner Bürger mit ihm, ein „entlebtes“ Schattenreich zwischen einem halbherzigen Können und Wollen. Der „müde Städtesammler“ Kolbe reiste daraufhin um die halbe Welt, seine Kindheit konnte er trotzdem nicht reparieren und nachholen. Er dichtet über Frauen, Kontoeröffnungen, Allen Ginsberg und das Weltpedal, über Landpartien, Abendsonnenschein und Krähenruf, fühlt sich bedroht vom Lindwurm des Vergessens und einer heutigen „ziemlich brutalen Freiheit“. Der Alltag schreibe ihm die Texte, diktiere Fragen und Antworten, vor allem Fragen. Eine letzte: „Du bist doch noch da, / dein Spiegel, schau hin, / das ist doch ein Fenster?“

Uwe Kolbe: „Renegatentermine. 30 Versuche, die eigene Erfahrung zu behaupten“. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1998. 228 S., 38 DM

„Vineta. Gedichte“. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1998. 72 S., 28 DM