Letzte Eigenkorrektur

■ Das Testament ist geduldig: Am Wiener Burgtheater inszenierte Claus Peymann noch einmal Thomas Bernhards "Vor dem Ruhestand"

Traugott Buhre springt in voller SS-Montur vom Tisch auf, röchelt, torkelt, das Glas fällt nieder und zerbricht. Gerichtsrat Höller ist nicht mehr. Letzte Worte, der Vorhang fällt. „Vor dem Ruhestand“ auf der Bühne des Wiener Burgtheaters. Jubel, immer wieder Jubel tost in den heiligen Hallen, durchdringt die Foyers, die Treppenaufgänge und die schweren Flügeltüren des Theaters fast bis auf die Ringstraße hinaus. Claus Peymann hat gesiegt an diesem Premierenabend.

Er hat verdient gewonnen, würden die Sportreporter formulieren, wäre das Burgtheater ihr Job – der Triumph belohnt eine beharrliche, dreizehn Jahre währende Einzelleistung. Die Disziplin könnte „Überleben in der Schlangengrube“ genannt werden. Nur haben sich die Tierchen zwischenzeitlich verdrückt oder züngeln lieblich, was den Helden sehr irritiert, statt Gift zu spritzen wie damals.

Damals ist „Heldenplatz“ anno 1988. Das Datum, um das sich für Peymanns Wirken in Wien alles dreht, für seine Anhänger wie für seine Feinde. Damals weilte noch Thomas Bernhard, sein Dichter, unter den Lebenden. Gemeinsam hatten sie mit einem Theaterstück einer ganzen Nation die Lebenslüge zerrissen. Ein letztes Mal hatte Theater die Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft verändert. Die Welt war voller Teufel, aber sie haben es durchgestanden, gemeinsam, gegen alle Drohungen, alle Verleumdungen. Bernhard und er.

Dann kam der Schock. In seinem Testament von 1989 hat der Dichter Österreich auf die Geltungsdauer des gesetzlichen Urheberrechts, 70 Jahre, mit Bannfluch belegt. Er traf damit zuallererst sein eigenes Sprachrohr, Claus Peymann an der Burg. Auf reichsdeutschem Gebiet durfte beinahe jeder sich an Bernhard vergreifen, nur er blieb außen vor. Von diesem Schlag hat sich der Burgtheaterdirektor nie richtig erholt. Die Turrinis und die Jelineks hatten selten das Format, sich am Verflossenen zu messen. Laufende Bernhard- Inszenierungen wurden unfreiwillig zu ihrem eigenen Museum.

So ging es bis zum Sommer. Die Gründung einer Stiftung zwischen Bernhard-Erben, dem Verlag und dem österreichischen Staat, mit dem Bernhard testamentarisch „nichts zu tun haben“ wollte, machte es möglich. Peymann hatte ihn wieder, aber wohl nicht nur er. Im Herbst schickte er den Junior vor: Sein Schüler Philip Tiedemann hat eine höchst inspirierte, leichtfüßige Inszenierung dreier Dramolette von Thomas Bernhard hingelegt, gegen die niemand etwas ernstlich einwenden konnte.

So legte der Meister schließlich selbst wieder Hand an. Noch einmal „Vor dem Ruhestand“, diese „Komödie von deutscher Seele“, die 1979 unter den Stuttgarter Verhältnissen vielfach nur als Anti-Filbinger-Stück verstanden wurde. Allerdings sitzen zwanzig Jahre später in Wien nicht mehr die Spitzel des Marinerichters im Parkett. Jenes militante rechte Bildungsbürgerpack, das Bernhard und Peymann auf die Höhen der Skandale prügelte, blieb in Wien jedoch bis zum „Heldenplatz“ und darüber hinaus aktiv, bevor auch hier die liberale, Post-68er-Wurschtigkeit gegenüber unbequemen Inhalten der Kunst einkehrte.

So wird Peymanns Nachreichung in einer Serie kanonischer Bernhard-Inszenierungen zur Fußnote der eigenen Wirkungsgeschichte. In vielen Momenten noch einmal die Reprise zum „Heldenplatz“, der hochmusikalische Sprechtheatervortrag der drei Darsteller: Traugott Buhre, Eleonore Zetzsche und Kirsten Dene; Karl-Ernst Hermanns Räume und ihre überragende Weitwinkelperspektive, die Oberflächenstruktur von Bernhard-Texten: Bügeln als wiederholende Nebentätigkeit, der etwas zu lange erste Akt, die Wetterspiele hinter dem Fenster.

Auch da, wo es gut geriet, also Selbstzitat. Aber diesmal einhellig triumphierend. Wirklich ein Sieg? Eher eine Gelegenheit zur Eigenkorrektur für diejenigen, die Peymann noch immer als seine Feinde ansieht. Seit dem „Sportstück“ spätenstens hat die Rechte Frieden mit dem Theater gemacht, lediglich ein paar Proleten von der Haider-Partei quatschen noch dazwischen, aber man hört sie kaum. Nach dem „Ruhestand“ klatschen die frenetisch, die heute nicht mehr mit den „Heldenplatz“-Rabauken in Verbindung gebracht werden wollen, auch wenn sie damals den Skandal gegen das Burgtheater selbst mit angezettelt haben.

Zehn Jahre zu spät. Bernhards Text ist mehr als das wütende Anschreien gegen die postfaschistischen Eliten der deutschen Nachkriegsrepublik. Die „Komödie von deutscher Seele“ zeigt, wo das Verdrängte hingelangt, gegen dessen Aufarbeitung die neurechte Emphase sich so sehr wehrt. Es wird zu einem Bestandteil von Mentalitäten, die sich „psychisch vererben“, die mit zunehmender geschichtlicher Distanz nicht verblassen. Himmlers Geburtstag im Hause von Gerichtsrat Höller läßt Bernhard als pornographische Séance mit den heimlichen Leidenschaften der Nation ablaufen. Darin ist der Text auch im zweiten Versuch Peymanns nicht ausinterpretiert. Eine Gedenkaufgabe fürs heutige Deutschland: Mit Bernhard daran erinnern, daß Deutsche einst gerne mordeten. Uwe Mattheiß