Die Nerven behalten

Wer eine HIV-Therapie durchsteht, hat nicht nur mit Nebenwirkungen und Resistenzen zu kämpfen. Nils und Maik müssen auch für gute Laune sorgen, damit Liebe, Sex und Alltag nicht im Pillenmeer untergehen  ■ Von Constanze
von Bullion

Das Gekicher reißt nicht ab. Wenn schon der Anfang vom Ende, dann wenigstens einen Cognac drauf. Gütertrennung nach zehn Jahren, das heißt, das Wohnzimmer in eine Rumpelkammer zu verwandeln. Stühle und Lieblingstassen nach links, Bücher in die Mitte, die Orangenbäume nach rechts. „Gestritten“, meint Nils, „haben wir uns nicht. Eher rumgekaspert und ein bißchen gestichelt, wer die Andenken aus Peru bekommt.“ Als die Fotos dann abgehängt sind und die Tür ins Schloß gefallen ist, kommt das, was Nils sich bis dahin nicht vorstellen konnte. Essen, trinken, schlafen ohne Maik. Und trotzdem weitermachen.

Offenbar ziemlich komisch, die Geschichte von der Trennung, von „der Krankheit“ und den Resistenzen. Zumindest ist kein bißchen Katzenjammer zu vernehmen, wenn Nils Kobarg neben Ex- Freund Maik auf dem Sofa seiner Berliner Altbauwohnung herumlümmelt, wenn die Jungs CDs auflegen, zwischen Zimmerpflanzen und Bücherregal ihr Leben ausbreiten und sich darüber lustig machen, daß schon hundertmal kein Land mehr in Sicht schien.

Irgendein rettendes Eiland ist immer aufgetaucht im Pillenmeer, durch das sich die beiden manövrieren. Die Inseln, auf denen sie notgelandet sind, tragen charmante Namen wie „Retrovir“, „Hivid“ oder „Invirase“. Auf ihnen baut die „antiretrovirale Therapie“ auf, der sich Nils und Maik unterziehen. Kombinationstherapie gegen HIV, das heißt bis zu 22 Tabletten am Tag schlucken. Das heißt, alle paar Wochen ein Blutbild zu erstellen. Es heißt fiebern, ob die Virenlast unten und die Zahl der Helferzellen oben bleibt. Vor allem aber bedeutet es: so munter wie möglich weiterzuleben – und nur heimlich zu bangen, ob die eigene Behandlungsstrategie die richtige ist. Denn da scheiden sich die Geister.

„Hit hard and early“ lautete 1996 die Devise bei der Bekämpfung von HIV und Aids. Die Viren früh und mit der geballten Wucht zusätzlicher Proteasehemmer anzugreifen, schien den Ausbruch lebensbedrohlicher Infekte verhindern zu können. „Das Aids-Wunder“ titelte der Spiegel noch im Februar 1997. Bei Ärzten und Patienten war die Begeisterung indes schon damals verflogen.

Immer kniffliger wird es, unerwünschte Begleiteffekte kombinierter Mixturen abzufangen. Je länger eine Therapie dauert, desto häufiger melden sich komplizierte Resistenzen. Treten massive Nebenwirkungen auf, können zwar die Medikamente abgesetzt werden – immerhin sind heute 14 verschiedene Präparate auf dem Markt. Bei jedem Wechsel aber verengt sich die Palette kombinierbarer Substanzen. Statt das gesamte Pillenarsenal gleich zu verballern, tüftelt man inzwischen eher an langfristigen Behandlungsplänen und spielt auf Zeit. Wenn man sie hat.

Es geht darum, die Nerven zu behalten, das haben Nils und Maik vor vier Jahren begriffen. „Ich bin immer davon ausgegangen, daß es mich nicht trifft“, erzählt Maik und meint den Pilz, den er Silvester 1994 in seiner Mundhöhle entdeckte. Was sich da ankündigte, war ihm sofort klar. Maik ist Not- und Narkosearzt, einer von der kleinen, hellen, schnellen Sorte, der über der Braue ein elegantes Piercing trägt und nicht allzuviel Rührseligkeit aufkommen läßt. Für die leisen Töne ist eher Nils zuständig. Der muß seine 1,94 Meter kräftig knicken, um die Teetassen auf dem Couchtisch abzustellen, spricht in weichem, leicht sächselndem Tonfall und ist von der Sorte, die das Herz jeder Schwiegermutter schmelzen läßt.

Lassen würde. Wenn da nicht die verlassene Straße in Chemnitz gewesen wäre, wo er die ersten Jungs aufgabelte. Wenn da nicht die Bodenkammer seines Elternhauses gewesen wäre, wo er mit ihnen heitere Stunden verbrachte. Daß Nils schwul ist, war auch zu DDR-Zeiten nie ein Geheimnis. Als Maurerlehrling hat er „standgehalten“, ließ sich vom Vater nicht in die SED drängen. Als Leipziger Soziologiestudent machte er „ziemlich aktiv bei den Montagsdemos mit“. Längst hatte er da, zwischen Freunden und den Gläsern einer Obstweinfete, Maik entdeckt. 1987, drei Wochen nachdem sie sich kennengelernt hatten, waren sie zusammengezogen.

Lange zu fackeln, das gehört nicht zu den herausragenden Eigenschaften von Maik. Er hatte damals das Abitur, vier Jahre als FDJ-Sekretär und eine Ausmusterung bei der NVA hinter sich. Er wollte einen Studienplatz in Medizin und bekam ihn. Er wollte Nils und mit ihm nach Berlin, becircte 1990 eine Krankenhausangestellte vorgerückten Alters und ergatterte mit einer Assistenzarztstelle eine Wohnung im Plattenbaubezirk Marzahn. „Nur junge Leute mit Kinderwagen“, stöhnt Nils noch heute. Also ab in den Prenzlauer Berg, in die Szene, ins Leben.

Maik vermutet, daß seine HIV- Infektion noch aus der DDR stammt. Ob Nils sich bei ihm angesteckt hat, war nie ein Thema. „Woher, das ist irrelevant“, findet Nils, der „ziemlich erleichtert“ war, als auch sein HIV-Test positiv ausfiel. „Ich war froh, daß es uns beide betrifft und wir das zusammen durchstehen.“ Von Schuld, Moral, erhobenem Zeigefinger will verständlicherweise keiner etwas wissen. Eher unbeliebt sind auch Fragen nach Safer Sex. „Außerhalb“, also bei seinen außerehelichen Affären, hat Maik „sowieso immer mit Kondom rumgemacht“. Auch Nils verweigert bei HIV-Negativen Sex ohne Gummi. Die Angst, das Virus weiterzugeben, läßt ihn inzwischen ohnehin Partner bevorzugen, die auch positiv sind. Daß dann von Safer Sex keine Rede mehr ist, versteht sich von selbst. In Berlin gibt es längst genug HIV-Infizierte, um in Sachen Sex unter sich zu bleiben. „Obwohl“, wie Nils weiß, „du dir damit neue Virenstämme einfangen kannst, die du noch nicht im Schrank hattest.“

Das ist recht milde ausgedrückt. Für Immanuel Hardtmann vom Auguste-Viktoria-Krankenhaus gehört ungeschützter Sex unter HIV-Infizierten zu den „ganz kritischen Punkten“ bei der Ausbildung von Resistenzen. Der Assistenzarzt, der seit sechs Jahren in Berlins renommiertester Klinik für HIV und Aids arbeitet, hat kürzlich einen jungen Mann behandelt, der am Anfang seiner Therapie stand. Alle Möglichkeiten einer langfristigen Behandlung hätten ihm offenstehen müssen. Doch der Patient hatte sich bei länger infizierten Partnern hartnäckige, medikamentenerprobte Viren geholt. „Durch die Zuführung fremder Virenstämme wird die natürliche Resistenzbildung beschleunigt“, weiß Hardtmann, „solchen Cocktails von Resistenzen beizukommen kann sehr schwierig werden.“

Viel geredet wird auch in seiner Beratung nicht über den Zusammenhang von riskanten Sex-Praktiken und Komplikationen bei der Therapie. Ein Grund dafür ist die Angst, das Vertrauen der Patienten aufs Spiel zu setzen. Im Wirrwarr konkurrierender Therapien und neuer Forschungen nagen an vielen HIV-Infizierten ohnehin oft Zweifel an der Kompetenz des Arztes. Wenn der nun bohrende Fragen stellt, kommt sein Kandidat womöglich nicht mehr oder bricht die Therapie ab. Was wieder neue Resistenzen provoziert.

Nils und Maik muß keiner mehr überreden, am täglichen Pillenplan festzuhalten. Um acht klingelt bei Nils der Wecker, dann wirft er die erste Dosis ein. Dreimal am Tag fischt er das Kästchen mit den bunten Brummern aus der Hosentasche. Um die Tabletteneinnahme mit Mahlzeiten und Arbeitspausen in Einklang zu bringen, hat er seine Kollegen in einer Mieterberatung aufgeklärt. „Ich wollte nicht, daß das langsam durchsickert“, sagt er. Auf sein Outing hat Nils „nur positive Reaktionen bekommen“.

Schwieriger war es für Maik, Therapie und Job zu vereinbaren. Mit zehn Helferzellen pro Mikroliter Blut – ein Wert von 200 gilt als kritisch – und „tierischen Kopfschmerzen“ hing er 1995 über seinen Büchern für die Facharztprüfung. Den Termin hat er schließlich abgesagt, landete mit Gehirnhautentzündung sechs Wochen im Klinikbett, sein Freund davor. „Jetzt geht's den Bach runter“, dachte Maik zwischen all den Infusionsbeuteln. Doch wenig später – die erste Kombinationstherapie ließ Maiks Helferzellenwert auf über 300 ansteigen – waren die beiden beim Wildwasser-Rafting im Himalaya. „Man kann“, findet Nils, „doch nicht ständig über die Krankheit meditieren.“

Spaß am Leben, so steht in jedem HIV-Ratgeber nachzulesen, ist für den Therapieerfolg fast so wichtig wie die strikte Einhaltung des Behandlungsplans. Daß beides manchmal unvereinbar scheint, hat Nils reichlich Nerven gekostet. Er war es, der die Tabletteneinnahme überwachte. Der beobachtete, wie schwer sich das Programm mit Maiks Bereitschaftsdiensten im Krankenhaus vereinbaren ließ. Nils hat zu Hause gekocht, hat seinen Kleinen verwöhnt und getobt, wenn er wieder einmal Schmerztabletten fand, mit denen Maik sich heimlich bei Laune hielt. Grund dafür haben HIV-Patienten allemal. Übelkeit, Durchfall, Fieber, keine Lust auf Sex, das sind noch die harmlosen Nebenwirkungen der antiretroviralen Dröhnung. Nils ist heute gegen drei Präparate resistent, Maik läßt neue Mittel an sich testen. Jeder Neuzulassung auf dem Pharmamarkt muß er jetzt „hinterherhecheln“, seinen Job im Krankenhaus hat er aufgegeben. Doch Grund zur Kapitulation ist das für ihn noch längst nicht.

Daß „nicht mehr unendlich viel Zeit bleibt“, hat Maik hungriger denn je aufs Leben gemacht. „Seit der Infektion läuft alles schneller“, sagt er, „heute bin ich eher bereit, bestimmte Sachen auszuleben.“ Zu den „Sachen“ gehört für ihn eine härtere Gangart beim Sex. Es gehört aber auch das Eingeständnis dazu, daß er und Nils im Bett „eigentlich nicht zusammenpassen“. Nach zehn Jahren im warmen Nest hat Maik sich neu verliebt, „in einen, der HIV-negativ ist, das war am Anfang ziemlich ungewohnt“. Fand Nils auch.

Doch, es gibt schwarze Löcher, in die man plötzlich hineinfällt. Zu normalen Krisen, die jeder mal hat, kommt bei Nils manchmal „so 'ne blöde, dumpfe Angst vor dem Abgang. Da überlegt man, ob man vielleicht doch in irgendeiner Form wiederkommt.“ Während Maik vorhat, „den Absprung selber zu schaffen“, beschäftigt Nils eher der Kummer der anderen. „Eigentlich bist du ständig damit beschäftigt, Freunde oder Verwandte aufzufangen“, wundert er sich. Nicht zu vergessen die organisatorischen Dinge. Wohin mit der Katze zum Beispiel? „Bücher und CDs bitte nicht an meinen Bruder“, platzt es aus ihm heraus, und schon bricht das Gelächter wieder los.

Statt sich in trauter Zweisamkeit von der Welt zu verabschieden, haben die beiden von vorn angefangen. Sie haben die Cognacflasche geöffnet, Nils hat die Orangenbäume in seine erste eigene Wohnung geschleppt und sich wieder aufgerappelt. Inzwischen können sie sich sogar erzählen, wen sie alles im Internet und sonstwo kennengelernt haben. „Was soll's“, meint Nils, „ich habe den Mann einfach gerne.“