Kulturstadt Weimar: Winter mit fröhlicher Sonne

Auch wenn die Weimarer das Meckern nicht lassen können: Es scheint so, als hätten sich die Einwohner der Europäischen Kulturstadt und die Organisatoren des Programms bei all dem Streit um Kunst und Baustellen langsam aneinander gewöhnt. Ein Spaziergang durch die Stadt  ■ Von Jens Rübsam

Täglich um eins vollziehen fünf angesehene Bürger der Stadt Weimar das immer gleiche Ritual: Ein Antiquitätenhändler, ein Graveurmeister, ein Bürgerrechtler, eine Dame aus Hochschulkreisen und ein Herr, der Stadtrundfahrten anbietet nehmen Platz im liebenswürdigen Café „Frauentor“, plauschen, exakt bis zwei: über Gott und Weimar. Und manchmal, wie dieser Tage, führt dies zu einer bemerkenswerten Erkenntnis. „Ich höre“, sagt einer der Herren aus der stadtbekannten „Philosophenrunde“, „daß die Weimarer in letzter Zeit öfter sagen: Da kann man gar nicht meckern.“ Das sei, fügt er erklärend hinzu, das höchste Lob, zu dem sich ein Weimarer durchringen könne.

Also los, um herauszufinden, ob es stimmt, was die „Philosophen“ sagen, und was denn nun die Weimarer, bekannt als „Neehlärsche“, in diesen Tagen zum Loben veranlaßt. Sicher hat es mit dem Kulturstadtjahr zu tun. Oder?

Weimar ist Europas Kulturstadt 1999. Die kleinste Kulturstadt, die es je gab. Die erste deutsche Kulturstadt. Die erste Kulturstadt im ehemaligen Ostblock. Weimar feiert am 28. August den 250. Geburtstag Goethes. Am 10. November den 240. Geburtstag Schillers. 80 Jahre Bauhaus werden dieses Jahr gewürdigt. 80 Jahre Reichsverfassung. An 50 Jahre DDR wird erinnert. An zehn Jahre Wende. Vielleicht weiß Bernd Kauffmann, 53, Auskunft zu geben?

Der Generalbevollmächtigte der Kulturstadt GmbH residiert gleich um die Ecke, in einem noblen Stadthaus in der Frauentorstraße, unten die „Deutsche Bank“, oben „die GmbH“, wie die Weimarer süffisant das Kulturstadtmanagement nennen. Also zu Kauffmann.

„Arroganter Typ“, sagt eine Passantin. „Einer aus dem Westen. Einer, der uns verachtet.“ Der Spiegel schrieb: „hochbourgeoises Individuum“, die Zeit: „absolutistischer Impresario“, man hört, er sei der „Costa Cordalis von Weimar“, wehendes Haar und stets braungebrannt. „Ich wundere mich manchmal wirklich“, sagt Kauffmann leise, reicht die Hand und bietet Kaffee an. Wir kommen auf Symbole zu sprechen, auf diese Zigarettenspitze zum Beispiel, mit der er zu spielen pflegt und die für Journalisten wie Einheimische ein Synonym für Arroganz ist. „Dabei“, sagt Kauffmann, „habe ich die schon mit 18 Jahren geschenkt bekommen.“ Vom Vater, der meinte: „Junge, damit kriegst du nicht soviel Nikotin ab.“ Seitdem also raucht er mit Spitze.

Er schaut zum Fenster hinaus. Winter liegt auf Weimar. Winter mit fröhlicher Sonne. „Sicher“, sagt er jetzt, „das ist mein Weimar.“ So hätte man den Satz von ihm nicht erwartet. Nicht in diesem selbstverständlichen Ton.

Kauffmann, seit sieben Jahren in der Stadt, erst als Präsident der Stiftung Weimarer Klassik tätig, jetzt als Kulturstadtintendant, wird gehaßt. Weil er den thüringischen Handwerksbetrieben vorwarf, aus Holz nichts anderes herstellen zu können als Riesengebirgszwerge. Weil er, wie viele meinen, vergessen habe, einheimische Künstler in das Kulturstadtprogramm einzubeziehen. Weil er den Weimarern das Gefühl gegeben habe: „Das geschieht mit Weimar“ und nicht: „Wir Weimarer gestalten das Kulturstadtjahr“. Weil er Goethes Gartenhaus im Park an der Ilm für 1,4 Millionen kopieren läßt. Goethes Gartenhaus!

„Wir zeigen an einem kleinen Objekt von Weltgeltung, ob es diese suggestive Aura wirklich gibt oder ob man im Zeitalter totaler technischer Machbarkeit alles faken kann“, entgegnet Kauffmann. Gehaßt wird er auch, weil er den Rollplatz, den ältesten Platz in der Stadt, dem französischen Konzeptkünstler Daniel Buren in die Hand geben wollte. Ausgerechnet den Rollplatz! Statt parkender Autos hundert verschieden hohe Stelen, farbig und begehbar! Der Stadtrat lehnte das Buren-Projekt ab. Er kannte es zum Zeitpunkt seines Beschlusses nur vom Hörensagen.

Man möchte Kauffmann zustimmen: Weimar ist eine Provinzstadt. Nicht nur wegen seiner Größe, 60.000 Einwohner. Auch im Denken. Sir Yehudi Menuhin kommt. Daniel Barenboim leitet einen israelisch-palästinensischen Workshop. Vom Lustschloß Ettersburg bis zum Konzentrationslager Buchenwald wird eine historische Zeitschneise geschlagen, sozusagen vom humanistischen Weimar zum Weimar, das Buchenwald ermöglichte. Im ehemaligen Lager selbst werden Goethe-Zeichnungen zu sehen sein. Die Buchenwald-Stiftung präsentiert sich im Schillermuseum. Gewürdigt wird das nicht wirklich.

Gewürdigt werden die Baumaßnahmen. Schicke Straßen. Tolle Fassaden. Neues Bahnhofsgebäude. Großzügige Bücherei. Ein neues Kongreßzentrum. 1,2 Milliarden sind in zwei Jahren in die Stadtsanierung geflossen. Elf historische Orte wurden als Weltkulturerbe anerkannt. Ein Landesmuseum wurde eröffnet, das erste Museum für internationale zeitgenössische Kunst in den neuen Ländern, rekonstruiert für 24 Millionen Mark. Aber, und schon wieder hört man den Weimarer meckern, die Ausstellung sei keineswegs ein Geschenk des Kölner Kunstmäzens Paul Maenz gewesen. Ein Drittel, acht Millionen Mark, hat die Stadt gezahlt. Geld, das man doch wohl hätte besser anlegen können.

Man ist geneigt zu spötteln: Das Weimar von heute ist geistig nicht reif, Europäische Kulturstadt zu sein, hat nichts mehr gemein mit dem Weimar von Goethe, Schiller, Herder, Liszt, Nietzsche und Gropius. Man möchte Weimar den Titel verleihen: Europas aufgemöbeltste Baustelle des Jahres. Man möchte den Damen und Herren aus der „Philosophenrunde“ widersprechen: Doch, doch, „Neehlärsche“ sind die Weimarer!

Bernd Kauffmann ist vorsichtiger geworden. Provinz deutet er jetzt als Chance. Die Chance einer Kleinstadt, als Kulturstadt weit mehr als eine Großstadt wahrgenommen zu werden. Die Schwierigkeiten mit Stadt und Bürgern definiert er jetzt physikalisch: „Letztlich erzeugt Reibung immer Wärme.“ Ein versöhnlicher Satz. Man denkt in diesem Moment: Vielleicht ist seine Überheblichkeit nur eine andere Form der Zurückhaltung.

Kauffmann begleitet zur Tür. Wünscht ein paar schöne Tage in Weimar. Hinaus also ins Kulturstadtjahr.

Was sieht man Neues in diesen Tagen? An der Eckermann-Ruine klotzen die Bauarbeiter. Das Haus in der Brauhausgasse, in dem vor 150 Jahren Goethes Assistent Johann Peter Eckermann lebte, soll im Jubiläumsjahr für Lesungen junger Autoren geöffnet werden. Im Ilm-Park sieht man die Polizei ein Geschenkpaket bewachen. Ein blaues Paket mit einer dicken Strickkordel, meterhoch und meterbreit. In dieser Hülle wächst die Gartenhaus-Kopie. Ein Anschlag wurde kürzlich darauf verübt. Man betrachtet mit neuen Augen den Führer-Balkon am Hotel „Elephant“ – jetzt, wo man weiß: Die Suite hat Udo Lindenberg gekauft, man vermutet: Wo Hitlers Mantel hing, hängt nun Udos Hut. Man läuft argwöhnisch durch den Stadtteil Weimar-Süd. Beobachtet noble Villen. Feine Gärten. Sucht an Wohnungsschildern nach Hinweisen auf Prostituierte – hieß es hier doch kürzlich: „Wir sind das Damen-Viertel.“ Der Ordnungsdezernent hatte bekanntgegeben: Wohnungsprostitution wird nur noch in Weimar-Süd genehmigt. In Weimar-Süd erfolgte ein Aufschrei. Schnell kamen Unterschriften zusammen. Gefunden hat sich beim Spaziergang kein einziger Hinweis auf eine Prostituierte. Alles sauber im Kulturstadtjahr.

Was spürt man Neues an diesen Tagen? Vorsichtig will man behaupten: Einen neuen Umgang mit Buchenwald. Keiner wirft mehr – wie noch vor zwei Jahren – Bernd Kauffmann eine „Buchenwaldisierung Weimars“ vor. Keiner sagt mehr, Buchenwald ist draußen, Weimar ist hier. Alle sagen: Es ist richtig, daß sich Buchenwald wiederfindet im Kulturstadtprogramm. Auch am Bahnhof hängt seit kurzem eine Gedenktafel. Sie weist darauf hin: Hier sind zwischen 1937 und 1945 250.000 Häftlinge angekommen. Sagen will sie wohl eher: Ihr Weimarer, ihr müßt das gesehen, ihr müßt von Buchenwald gewußt haben. Heute vernimmt man sogar Stimmen in Weimar, die sagen: „So viel humanistisches Gut und so viele Leichenberge in derselben Stadt haben etwas Positives: Wir werden nicht zum Disneyland der Kultur.“

Was hört man noch in diesen Tagen? In der Tourismuszentrale kämpft eine Dame mit den Hotelpreisen: „Die werden ständig erhöht.“ Im Kulturstadt-Ticketladen flucht eine Angestellte über den Computer: „Der streikt gerade!“ Auf dem Marktplatz raunzt ein alter Weimarer: „Noch, noch kosten die Bratwürste zweifuffzig!“ Auf dem neuen Bahnhofsvorplatz mosern zwei Passanten: „Sieht aus wie ein Hundefriedhof“. Am Frauenplan lästern zwei Einheimische: „Es ist Goethe-Jahr, und das Nationalmuseum wird nicht fertig, aber das Gartenhaus-Double.“ Es ist was dran: Die Eröffnung des Goethe- Nationalmuseums neben Goethes Wohnhaus mußte um gut zwei Monate auf Anfang Mai verschoben werden. Den Ordnungsdezernenten hört man zufrieden betonen: „Die rechten Jugendliche sind weg vom Theaterplatz.“ Weil es in der Kälte keinen Spaß macht, Naziparolen zu brüllen? „Nun ja, vielleicht.“ Ein zusätzlicher Streetworker wurde eingestellt, eine Stadtwache im Zentrum eröffnet. Eine Initiative, die sich „Die sieben Zwerge“ nennt, hört man trommeln: Neben der offiziellen Kultur gibt es auch noch eine andere in der Stadt, die Alternativ-Kultur.

Hatte die Philosophenrunde im Café „Frauentor“ nicht angedeutet: Die Weimarer loben? Wenn auch verhalten, aber sie loben?

Also ein Besuch bei Rudolf Keßner, dem Bürgerrechtler aus der Runde. Der muß wissen, wie das mit dem Loben gemeint war.

Keßner sitzt in seiner Werbeagentur, hat einen stressigen Tag hinter sich, raucht nun eine Zigarre und lacht viel und laut. Weimarer sagen: Er ist ein Original. Keßner befindet zunächst: Weimar ist Kulturstadt „de facto“. Das Gartenhaus-Double ist eine „heiße Sache“. Man müsse aber jetzt auch daran denken, „was im Jahr 2000 wird“. Lokalpolitiker hörte man schon jetzt äußern: „Am 1. 1. 2000 werden die Bürgersteige wieder hochgeklappt.“ Keßner, bündnisgrüner Stadtrat, hat deswegen eine Presseerklärung mit herausgegeben, „Weimar 2010“ steht obendrauf. Er macht sich Gedanken. Im Jahr 2000 steht Nietzsches 100. Todestag an.

Wie ist das nun mit dem Lob? „Die Weimarer wissen, daß sie auf einer Insel der Seeligen leben“, sagt Keßner nüchtern. Das Problem sei: Keiner will es zugeben. Er schaltet den Computer ein, ausgerechnet im falschen Moment.

Auf dem Bildschirm erscheinen die Einnahmen seiner Werbeagentur, unter „Weimar 99“ steht 3.180,50 Mark. Nicht erwähnenswert, was Keßner an der „GmbH“ verdient hat, „es hätte mehr sein können“. Zum Kulturstadtjahr wollte er eine Zeitung herausbringen. Bis heute schweige sich Kauffmanns „GmbH“ darüber aus. Nein, nein, beeilt sich Keßner zu sagen, er wolle nicht auch noch klagen. Klagen tun die Kleinunternehmer, deren Hoffnungen auf Aufträge sich nicht erfüllt haben. Noch hoffen die Hoteliers und die Händler. Zu zehn Prozent lebt Weimar von Touristen. Nur zu 30 Prozent waren im vergangenen Jahr die Hotels ausgelastet. In diesem Jahr nun erwartet man fünf Millionen Besucher. Werden sie auch mal eine Nacht bleiben?

Vielleicht wäre das eine passende Frage an die Mittags-Philosophen aus dem Café „Frauentor“.