„Diese Sache kann weggelegt werden“

Die deutsche Schauspielerin Dora Paulsen versteckte im Amsterdamer Exil Nazi-Gegner und Juden vor der Gestapo, bis sie selbst untertauchen mußte. Nach dem Krieg betrieb sie ihre Entschädigung. Eine Akte  ■ Von Christine Fischer-Defoy

Die Akte Dora Paulsen fand sich in Amsterdam, zwischen unsortierten Unterlagen eines früheren Berliner Anwaltsbüros: ein zerfledderter, brauner Aktendeckel, am unteren Rand angeheftet ein Stück Papier mit ihrem Namen. Ein großes, mit Tinte hinzugefügtes „E“ signalisiert: „Erledigt“. Im obersten Blatt heißt es mit Datum des 27.10. 1960: „In der Entschädigungsakte Feodora Anna Pauline Voskuil geb. Pollen teile ich Ihnen mit, daß diese Sache weggelegt werden kann.“

Wer war Dora Pollen, verheiratete Voskuil, mit dem Künstlernamen Dora Paulsen, wohnhaft Amsterdam, Sarphatistraße 39? Die Akte beginnt im Jahr 1957 mit einer eidesstattlichen Versicherung auf deutsch: „Ich, die Unterzeichnete Käthe Georgine Fink, geborene Wolf, wohnhaft in Amsterdam, erkläre: Während des Krieges habe ich mich durch Untertauchen der Deportation entzogen. Als ich auf einem meiner Versteckplätze nicht mehr bleiben konnte und ratlos war, was ich tun mußte, um nicht in die Hände der Deportationsbehörden zu fallen, ging ich in meiner Not zu Dora Paulsen. Es war mir bekannt, daß diese eine große Stütze der damals verfolgten Personen war und alles tat, was sie konnte, um diese zu schützen. Frau Dora Paulsen und ihr Ehemann, der Kunstmaler Voskuil, zögerten dann auch nicht, mir in meiner Not zu helfen, indem sie mich sogleich in ihrem Hause Frederiksplein 46 in Amsterdam aufnahmen und verborgen hielten. Während ich am Frederiksplein verborgen war, fanden auch Razzien durch die Deutschen im Hause statt, wobei ich in einem Schrank versteckt wurde.“

Dora Paulsen wurde vor 100 Jahren, am 14.7. 1898, in Berlin geboren, gestorben ist sie am 2.12. 1970 in Amsterdam. Beide Eltern waren Opernsänger – so schlägt auch Dora die Bühnenlaufbahn ein. Obgleich selbst nicht jüdisch, war sie bei der jüdischen Künstleragentur Rotter in Berlin unter Vertrag. In ihrer eidesstattlichen Erklärung von 1957 ist zu lesen: „Nach vollendeter Ausbildung war ich als Elevin kurze Zeit beim Trianon-Theater und wurde dann durch die Direktion Rotter für ihre Theater (Lessing-Theater, Kleines Theater Unter den Linden, Metropol-Theater, Theater des Westens und Großes Schauspielhaus) übernommen. So war ich in Dramen von Ibsen, Strindberg, Stukken usw. zusammen mit den damals bekanntesten Schauspielern, wie Paul Wegener, Irene Triesch, Erich Kaiser Tietz, Paul Bildt und vielen anderen tätig.“

Im September 1933 erfährt sie von ihrer drohenden Verhaftung in Berlin: Man hatte sie am sogenannten Judenboykott-Tag beim Einkauf in jüdischen Geschäften fotografiert. Noch am selben Tag flüchtet sie – nur mit Handgepäck – in die Schweiz. Da sie bereits in Berlin mit der Kabaretttruppe Rudolf Nelsons aufgetreten war, findet sie in seinem in die Schweiz geflüchteten Ensemble Aufnahme. Rudolf Nelson berichtet 1957 an das Entschädigungsamt Berlin: „Ich kenne Dora Paulsen schon seit dem Jahre 1926 und habe ihre künstlerische Entwicklung in Berlin verfolgt. Sie war in den Jahren 1926–1927 in meinem Theater „Nelson-Revue“ in einer der Hauptrollen engagiert. Als sie im September 1933 nach Zürich geflohen war, teilte sie mir mit, daß sie dies Hals über Kopf getan hatte, nachdem sie von einem Kriminalbeamten, der mit ihrer Schwester verlobt war, vertraulich gehört hatte, daß ein Verfahren gegen sie eingeleitet sei und ihre Verhaftung bevorstünde. Sie erzählte mir damals noch, daß dieser Kriminalbeamte, ihr späterer Schwager, sie mit den größten Vorsichtsmaßnahmen in den Zug gesetzt hätte und daß sie nur einen kleinen Coupé-Koffer hätte mitnehmen können. Ich weiß, daß sie ohne Garderobe in Zürich angekommen ist.“

1934 übersiedelt Dora Paulsen mit Rudolf Nelsons Kabarett nach Amsterdam. In seiner eidesstattlichen Versicherung beschreibt ihr Kollege, der Kabarettist Walter Feinstein, die finanzielle Lage der Gruppe: „In Holland waren die Möglichkeiten für eine Revue in deutscher Sprache sehr beschränkt. Unsere Einkünfte waren sehr klein. Sie reichten oft nicht einmal zu einer noch so bescheidenen Existenz aus.“

„Wir hatten ständig drei Untertaucher im Hause“

1938 heiratet Dora Paulsen in Amsterdam den Maler und Hitler- Gegner Jacob Voskuil. Als die deutschen Truppen 1940 in Holland einmarschieren, wird ihr nun auch dort jede künstlerische Arbeit untersagt. Zusammen mit ihrem Mann engagiert sie sich im holländischen Widerstand und hilft verfolgten Juden. Im Juni 1957 berichtet Dora Paulsen: „Nach der Besetzung Hollands habe ich mich nach Kräften weiterhin gegen den Nationalsozialismus gewandt. In den Jahren der Besetzung haben wir zahlreichen durch das Naziregime wegen ihrer politischen Überzeugung oder ihrer Rasse verfolgten Personen Hilfe geboten. Wir hatten ständig drei Untertaucher im Hause und sorgten außerdem für eine große Anzahl anderer Personen, die sich anderwärtig versteckt halten mußten.“

1943 werden Dora und ihr Mann von der Gestapo verhaftet. Sie sollen gezwungen werden, die in ihrem Haus versteckten Juden auszuliefern. Aus der Erklärung von Dora Paulsen: „Meine Mutter, die ich im Jahre 1935 aus Deutschland geholt hatte, hatte in der Nacht alle verwahrten Sachen anderwärtig untergebracht, die eingebauten Versteckplätze für die Untertaucher beseitigen lassen und die Untertaucher selbst zeitweilig anderwärtig untergebracht. So konnte bei der Haussuchung nichts gefunden werden, und ich wurde mangels Beweisen freigelassen.“

Auch ihr Mann kommt nach einigen Wochen frei, beide werden kurz darauf erneut verhaftet, wieder freigelassen. Nun bleibt ihnen selbst nur noch unterzutauchen. Dora Paulsen berichtet: „Die Fürsorge für unsere Untertaucher wurde von meiner Mutter zusammen mit dem im selben Hause wohnenden, später von den Deutschen erschossenen Rechtsanwalt Theo Eskens übernommen. Da wir auf jeder Etage Versteckplätze hatten, blieb ich in meinem eigenen Hause, verließ dasselbe aber nicht mehr und ging nicht auf die Straße. Außer den vertrauten Hausbewohnern durfte kein Dritter wissen, daß ich noch da war.“

Dora Paulsen übersteht die Zeit trotz weiterer Hausdurchsuchungen der Gestapo bis zur Befreiung 1945. Aufgrund der physischen und psychischen Belastung kommt eine Rückkehr nach Deutschland für sie nicht in Frage. Auch in Holland kann sie jedoch nicht wieder an ihre künstlerische Karriere vor 1933 anknüpfen. Sie schreibt 1957: „Ich bin inzwischen auch zu alt geworden, sodaß ich ganz von vorne anfangen müßte, denn mein Name ist bei dem jetzigen Publikum nicht mehr bekannt.“

Ihr Rechtsanwalt, der aus Berlin emigrierte Friedrich Mannheimer, reicht 1957 zahlreiche Zeugenaussagen von Verfolgten, die im Hause Dora Paulsens versteckt gewesen waren, bei der Berliner Entschädigungsbehörde ein. Er fügt ein ärztliches Gutachten über seine Mandantin bei: „Sie ist jetzt so apathisch-depressiv und vergeßlich, von so labiler Stimmung und so voll paranoider Vorstellungen, daß sie nicht mehr zur Ausübung irgend einer Arbeit imstande ist.“ Am 3. Juli schickt der Anwalt aus Amsterdam weitere Unterlagen nach Berlin und bittet um einen dringend benötigten Vorschuß des Entschädigungsamtes, „in Rücksicht auf die katastrophale Lage der Antragstellerin, da sonst die Gefahr eines Selbstmordes vorliegt“.

„Beruf und Leben aufs Spiel gesetzt“

Der in Berlin zuständige Anwaltskollege äußert jedoch „schwerwiegende Bedenken, da es sich ja um eine Arierin handelt und nach der konstanten Judikatur nur dann eine Entschädigung gewährt würde, wenn die betreffende Person laufend Einsatz gegen den Nationalsozialismus entfaltet hat“.

Weitere Zeugen werden aufgeboten, die über Dora Paulsens Beteiligung am Widerstand berichten, unter ihnen der Direktor des Stedelijk Museums Amsterdam, Willem Sandberg: „Dies ist mir persönlich bekannt, da ich des öfteren in ihrem Hause Zusammenkünfte der illegalen Bewegung abhielt, an welchen die beiden Ehegatten, soweit möglich, teilnahmen. Hierdurch weiß ich auch, daß Frau Dora Paulsen in ihrem Hause zahlreiche jüdische und andere Untertaucher verborgen hielt. Es war dies nämlich ein großes Haus mit zahlreichen Zimmern und Gängen, Treppen und anderen Räumen, in welchen Versteckplätze angebracht werden konnten.“

Die Korrespondenz mit dem Berliner Entschädigungsamt (Aktenzeichen: Entschädigungsamt Berlin, Nr. 311 077, abgeschlossen am 23.8. 1960) dokumentiert auf beschämende Weise dessen Methoden gegenüber den Betroffenen. Da wechseln monatlich die Zuständigkeiten und Anforderungskriterien, wochenlang wartet Dora Paulsen auf Antworten und Bescheide – die Behörde spielt auf Zeit. Dem Amsterdamer Anwalt platzt der Kragen: „Gerade auf Dora Paulsen wird in der niederländischen Öffentlichkeit oft hingewiesen, wenn es sich darum handelt, hervorzuheben, daß nicht alle Deutschen Nationalsozialisten gewesen sind, sondern daß sich unter ihnen auch Idealisten befanden, die den Nationalsozialismus bekämpft haben und hierbei Beruf, Vermögen und Leben aufs Spiel gesetzt haben. Die mit der Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts beauftragten Behörden hätten also alle Veranlassung, dieser Frau die Entschädigung nicht vorzuenthalten.“

Im Januar 1960 wird von Berlin aus eine amtsärztliche Untersuchung Dora Paulsens angeordnet. Obwohl es im wesentlichen um die psychischen Schäden der erlittenen Verfolgung geht, wird ein praktischer Arzt mit dem Gutachten beauftragt – und der von der deutschen Botschaft benannte holländische Arzt fährt erst einmal in Urlaub: „Ob es zweckmäßig ist, Herrn Dr. X so sehr zu drängen, möchte ich kaum empfehlen, da sonst derselbe irgendwie darüber verärgert sein könnte und deshalb ein nicht gutes Gutachten ausstellt“, gibt der Berliner Anwalt zu bedenken.

Im Mai 1960 wird Dora Paulsen schließlich ein Vergleich angeboten: für 2.600 Mark wegen des erlittenen „Freiheitsschadens“ soll sie auf weitere Ansprüche verzichten. Es bleibt der erlittene Schaden an Eigentum und beruflicher Karriere.

Im Juni reist Dora Paulsen selbst nach Berlin, um mit den Behörden zu verhandeln. Das Entschädigungsamt fordert weitere Beweismittel, die einen beruflichen Schaden begründen können. Am 23.8. 1960 teilt das Entschädigungsamt Berlin schließlich mit, daß Dora Paulsen für Schaden an Leben, Körper und Gesundheit, an Eigentum und Vermögen, an wirtschaftlichem und beruflichem Fortkommen 40.000 Mark an Entschädigung gewährt werden.