Wettrüsten um das Urheberrecht

■ Das Europaparlament berät über neue Richtlinien, die amerikanische Medienindustrie will das Netz schon jetzt von angeblichen Raubkopien säubern: mit Gerichtsprozessen, die kein privater Betreiber einer Websi

Mehr als 100.000 Texte bekannter und weniger bekannter Lieder, von Aerosmith bis ZZTop, hatte der Schweizer Pascal de Vries im Internet zur Verfügung gestellt. Mit einer kleinen Schar von Helfern fügte er täglich 200 bis 300 neue „Lyrics“ dem kostenlos zugänglichen Datenbestand hinzu, zugesandt von Freiwilligen aus der ganzen Welt.

Finanziert wurde der Server, der rund 25.000 Mark im Monat kostete, durch Werbung. Über 100.000 Besucher suchten hier täglich nach den Texten ihrer Lieblingslieder. Doch das in dieser Größe einmalige Projekt fand am 12. Januar dieses Jahres ein vorläufiges Ende. Polizeibeamte der Kantone Basel und Zürich stürmten die Wohnungen von de Vries, seinem technischen Berater und seinem Internet-Provider. Die bereits für ähnliche Aktionen notorische Harry Fox Agency (HFA) hatte im Namen acht großer Musikverlage rechtliche Schritte gegen www.lyrics.ch eingeleitet. Der Vorwurf: Verletzung des Urheberrechts, finanzieller Schaden in Millionenhöhe.

Die HFA vertritt rund 19.000 amerikanische Musikverleger. Eine geballte Macht. Im Juni 1998 hatte sie im ganzen Netz für Entrüstung gesorgt, als sie durch die Androhung rechtlicher Schritte die Schließung von OLGA (www.olga .net), dem „Online Guitar Archive“, erwirkte. OLGA enthielt Gitarrentabulaturen und Texte zu mehr als 30.000 Liedern – nach Ansicht der HFA eine grobe Urheberrechtsverletzung.

Eigentlich sollte die sogenannte „Fair Use“-Regelung des amerikanischen Urheberrechts solchen Streit verhindern: Demnach dürfen geschützte Werke ohne Genehmigung verbreitet werden, wenn sie der Bildung und Wissenschaft dienen und mit ihrer Veröffentlichung kein Gewinn erzielt wird. Doch unzählige Präzedenzfälle haben die Klausel ausgehöhlt, wovon nicht zuletzt Universitäten und Schulen betroffen sind: Dürfen Lehrer Multimedia-Materialien an ihre Schüler weitergeben? Dürfen sie im Internet abrufbar sein?

OLGA bietet auch kostenlose Gitarrenkurse an: Ist damit die „FairUse“-Regelung erfüllt? Die Betreiber beauftragten ein Freiwilligenkomitee mit der Klärung dieser Frage. Beliebte Adressen können durchaus Menschen mobilisieren. Doch je kleiner die Websites sind, desto weniger Geld und Zeit haben ihre Betreiber für Gerichtsprozesse. Cartoonfiguren oder etwa „Enterprise“-Logos konnten ohne nennenswerten Widerstand gleich massenhaft aus dem Netz verbannt werden. Vorläufiger Höhepunkt des Copyright-Wahns: Der Comic-Verlag Archie verbietet einem Vater, unter „www .veronica.org“ seine zweijährige Tochter vorzustellen – eine Figur in den Archie-Comics heißt zufällig „Veronica“.

Wer diesen Rechtsstreit gewinnen wird, ist noch nicht abzusehen. Auch de Vries zweifelt, ob der Schweizer Songtext-Server je wieder ans Netz gehen wird. In Gesprächen mit den Klägern will er die Situation klären – und gegebenenfalls Lizenzgebühren abführen.

Bis dahin bieten andere, freilich kleinere Archive Ersatz an, zum Beispiel „Rock'n The Web“ unter homepages.ihug.co.nz/denisg/ rock/. Die Schließung von www .lyrics.ch hat das Problem also nur verlagert – nach Neuseeland. Wie vergeblich der Kampf der Medienindustrie gegen die Informationsfreiheit ist, beweist nicht zuletzt das vom (deutschen) Fraunhofer- Institut für Integrierte Schaltungen entwickelte digitale Musikformat „MPEG Layer-III“ (MP3). Schon auf einem handelsüblichen PC lassen sich damit beliebige Musikstücke von CDs in handliche Dateigrößen einstampfen, die den Austausch der digitalisierten Klänge per WWW, FTP und E-Mail erlauben. Kleine Programme wie „Sonique“ oder „WinAmp“ erlauben das Abspielen auf jedem Rechner – gegebenenfalls versehen mit lichtorgelartigen Effekten, die keine Hi-Fi- Anlage bietet. Wer das Suchwort „MP3“ in eine Suchmaschine eingibt, wird von Einträgen überhäuft. Hunderttausende von Webseiten weisen den Weg, die Suche nach „MP3s“ rangiert gleich hinter der Suche nach Pornobildern.

Doch nicht nur auf dem heimischen PC ist das Anhören der Musik möglich. Gegen den erbitterten Widerstand der Industrie sind mittlerweile portable MP3- Player erhältlich. Alle stammen ursprünglich aus Korea. In Deutschland wird – völlig legal – der handliche „RioPMP300“ der Firma Diamond vertrieben. In seinen Speicher von 32 Megabytes lassen sich für 32 Minuten Abspielzeit in CD- Qualität Musikstücke vom Rechner aus überspielen. Theoretisch wären solche Geräte mit einem Speicher für mehrere Stunden Musik ohne weiteres denkbar, die daür erforderliche Technik existiert seit langem. Auch normale CD-Player können für MP3-Unterstützung nachgerüstet werden.

Vieles wäre wohl schon Realität, wenn die Plattenindustrie nicht wäre. Die „Record Industry Association of America“ (www.riaa .com) versucht mit allen Mitteln, gegen Piraten vorzugehen. Meist reicht die Andohung rechtlicher Schritte zur Schließung von Websites aus. Doch für jede geschlossene Adresse tauchen drei neue auf. Zu einfach ist die Herstellung eigener MP3s. Besonders beliebt für die Verbreitung der kopierten Musikstücke sind sogenannte Freespace-Anbieter, die ohne Prüfung der Personalien mehrere Megabytes Serverplatz zur Verfügung stellen, meist finanziert durch ungefragt eingeblendete Werbung.

Einer von ihnen, XOOM, zog jetzt die Konsequenz, und machte die Speicherung von MP3-Dateien auf seinen Rechnern gänzlich unmöglich. Ohne weitere Nachfrage wurden außerdem alle noch existierenden MP3-Dateien gelöscht. Sogleich beschwerten sich all diejenigen, die MP3 einsetzen, um ihre eigene Musik legal ins Netz zu stellen – auf dem legalen MP3-Server www.mp3.com stellen immerhin über 600 Künstler ihre Musik umsonst zur Verfügung.

Doch selbst solche Maßnahmen nützen wenig. Die Dateien werden umbenannt, und wenn das nicht mehr hilft, verschlüsselt man sie zusätzlich und plaziert entsprechende Hinweise auf der Internetseite. Es gibt kaum eine Barriere, die für die als „Raubkopierer“ kriminalisierten Nutzer nicht zu überwinden wäre. Diamond hat seinen „Rio“ mit einer Sperre versehen, die das Auslesen der gespeicherten Musik unmöglich machen soll. Aber auch diese Tonstörung ließen sich die Nutzer nicht lange gefallen: Flugs schrieb ein findiger Hacker ein Programm, das die Sperre umgeht.

Am liebsten würde die Industrie dem ganzen Dateiformat den Garaus machen. Sie will dieses Ziel mit mehreren Strategien erreichen, teils durch Verschlüsselung, teils mit unhörbaren Wasserzeichen, die die Herkunft der Dateien verraten. Da aber die Musikpiraten kaum freiwillig umsteigen werden, hat nur eine Unterwanderungsstrategie Aussichten auf Erfolg. Deshalb verwundern seriös anmutende Meldungen über angebliche Viren in MP3-Dateien wenig. Sie haben sich allesamt als falsch herausgestellt. Während das Internet sonst eine ständig brodelnde Gerüchteküche ist, brachten in diesem Fall die zentralen MP3-Sites sofort entsprechende Dementis.

Alle Schläge der Industrie verpufften bislang wirkungslos. Die User des Internets lassen sich von keiner Lobby beeindrucken. Ein Rüstungswettlauf um das Urheberrecht hat begonnen, die Fronten verhärten sich mehr und mehr. An die Verbesserung der Produktqualität – zum Beispiel durch unkopierbare Serviceleistungen – denkt kaum jemand. Vielmehr soll die ohnehin schon lange, international gültige Schonfrist von 70 Jahren nach dem Tod des Urhebers in den USA zum Schutz der Klassiker des 20. Jahrhunderts sogar noch verlängert werden. Die Kanadier verdoppeln gar den Preis aller digitalen Aufnahmemedien, „Digital Audio Tape“ (DAT) und wiederbeschreibbare CDs eingeschlossen.

Noch drastischer geht indessen die neue Urheberrechtsrichtlinie der EU vor, die im Februar in erster Lesung ins Europäische Parlament geht. Von den Medien kaum beachtet, hat die EU einen voraussichtlich opferreichen Krieg um die Kopierrechte begonnen. Nach dem jetzigen Entwurf müssen sogar Bibliotheken die Ausleihe aller Materialien autorisieren lassen – eine Regel, die wohl einmalig in der Geschichte des Bibliothekswesens ist. Die Lobbyarbeit von über 400 Musikern, die unter dem Namen „Artists Unite for Strong Copyright“ auftreten, könnte sogar dazu führen, daß alle privaten Kopien kriminalisiert werden.

Zuerst waren es die Bilder, die in hoher Qualität von jeder Website zu holen waren, dank MP3 und der wachsenden Bandbreite des Netzes sind es nun Musikstücke. Teilweise werden auch heute schon komplette Filme, ebenfalls hochkomprimiert, über das Netz kopiert. Erste Verlage stellen elektronische Bücher online zur Verfügung – selbstverständlich verschlüsselt. Und selbst die Massendigitalisierung von Büchern und Zeitschriften ist nur eine Frage der Zeit. An holographischen Speichern, die ganze Filmarchive in Würfelzuckergröße speichern können, wird bereits in den Labors gearbeitet.

Solche Entwicklungen stellen das Urheberrecht im herkömmlichen Sinn zur Disposition. Alle Polemik der Medienindustrie kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Kopie von Informationen kein Diebstahl ist. Das Original bleibt erhalten und verliert nicht an Qualität. Was fehlt, sind neue politische Ansätze. Ohne sie werden vielgelobte Online-Archive wie das deutsche „Projekt Gutenberg“ (gutenberg.aol.de) auf ewig zu den deutschen Klassikern von Lessing bis Rilke verurteilt bleiben. „Informationsgesellschaft“ wird damit vielleicht einmal Wort des Jahres, aber niemals Realität. Die bedeutendsten literarischen Werke der letzten Jahrzehnte, die musikalischen Meisterwerke dieses Jahrhunderts und die Filmklassiker von Hitchcock, Spielberg und anderen drohen bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts in den Archiven der Rechteinhaber zu verstauben – es sei denn, sie werden immer wieder von neuem und teuer verhökert. Erik Möller

flagg@oberberg-online.de