Privatallüren für alle

Das Diarium als Spielwiese: Helmut Krausser und Rainald Goetz produzieren Positionen mit der Zeit und dagegen. Wo der eine den Wahrnehmungsprozeß so schön als möglich verdichtet, ist der andere auf der Suche nach dem ultimapositiven Kick  ■ Von Eva Behrendt

Kann man die Autoren Rainald Goetz und Helmut Krausser im gleichen Atemzug nennen? Der eine literarisiert sukzessive die große Feier Pop/Art und weiß sich an vorderster Front der Parade, der andere fordert Weltbildungsbürgertum und produziert hyperaktiv Romane, Opernlibretti, Drehbücher und Theaterstücke. Während Goetz seit einem Jahr ruhelos „am Rad“ durch die Hauptstadt dreht, immer neu das Dreieck Wedding – Buchladen – Ausstellungspark Berlin-Mitte schließend, sammelt Krausser römische Münzen in Oberbayern, fahndet nach der stilistisch und rhythmisch treffendsten Tacitus-Übertragung, frönt Schach, Musik und anderen elfenbeinernen Passionen. Goetz ist Jahrgang 54, Krausser zehn Jahre jünger: „Inzwischen ist er wahrscheinlich Jünger“, höhnt Goetz über Krausser, während Krausser Goetz unter „die ganze verlogene Bagage der Vierzigfünfundvierzigjährigen“ sortiert, „die den Sprung in die Gegenwart versäumt haben (...). Kleinbürgerliche Scharlatane, die sich ihren Eltern überlegen fühlten und, fortan von sich begeistert, die Welt erwecken wollten. Scheiß drauf. Alte Säcke.“

Solch kuriose Polemik findet sich im scheinbar Privatesten. Eben dort kommen Goetz und Krausser sich geradezu unheimlich nah: beide haben sich konzeptionellen Tagebuchprojekten verschrieben. Rainald Goetz' just beendetes Internet-Journal Abfall für alle folgt einer Numerologik, die der von Kraussers seit 1992 jährlich um je einen Monat fortschreitendem Diarium verwandt ist – auch wenn das eine täglich und nur elektronisch empfangen werden konnte, das andere dagegen ganz old- style verzögert zwischen Buchdeckeln erscheint. Die mediale Differenz entspricht dabei zufallstreffend den Positionen der Autoren: „Celebration“ versus „Thanatos“. Goetz surft auf Pop und drüber weg; Krausser postuliert in Kürze: „Was ist das Thema der Neunziger? Die Entwertung des Pop als dominantem Kulturcode und der Mut zur Bürgerlichkeit nach Aufgabe der politischen Utopien.“ So lassen die Journale sich mit- oder gegeneinander lesen als fließende Lebenshaltungsmanifeste.

Längst vorbei die Zeiten, in denen das Schweigsamkeitssiegel um Dichtertagebücher erst Jahrzehnte nach dem Tod der Verfasser gebrochen wurde, um dann Skandale, Spekulationen und Revisionsdebatten auszulösen. Nicht nur die in die Jahre gekommenen Altbundesrepublikaner wie Walter Kempowski und Peter Rühmkorf veröffentlichten Anfang und Mitte der neunziger Jahre aus schönster Quicklebendigkeit heraus ihre täglichen Notizen. Und natürlich ist da noch vorher Ernst Jüngers „Siebzig verweht“ („klingt wie ,Stirb langsam 23‘“, findet ein Freund von Krausser) – als egozentrisches Opus magnum ein zwingend-magischer Bezugspunkt jedes mitteilungsfreudigen Diaristen.

„Wieso schreiben nicht ALLE Autoren Tagebücher?“ Der von Goetz in „Abfall“ gestellten Frage geht eine andere voraus: Weshalb kann es Lust bereiten, fremder Leute Leben und Ansicht en detail zur Kenntnis zu nehmen? Denn in staunenswerter Authentizität kreisen solche Tagebuchtexte um Dichters Alltag. Putzen, einkaufen, essen, saufen, fernsehen, lesen – der Dichter liebt, haßt, geht seinen Passionen nach, überwindet Depressionen, Arbeitskrisen und gibt sich im Freundeskreis die Kanne (bloß Sex bleibt weitgehend ausgeklammert). Vor Publikum, freiwillig in der Schußlinie, bleibt das Risiko einkalkuliert: Will der Leser wirklich wissen, was es bei Kraussers am 3. Oktober zu Mittag gab? Um wieviel Uhr Rainald Goetz am 9. November ins Bett gekommen ist? Der Leser will nicht, er muß es wissen. Denn der Dichter denkt fiebrig und öffentlich über sich selbst nach, indem er anscheinend über andere(s) nachdenkt. Das kann er besser als 08/15, denn er findet das schönere Wort. Auch wenn es manchmal fremde Sprachen braucht, um der endlos deutschen Selbstreflexivität beizukommen: „I think a lot about what not to think about. I think I shouldn't be thinking like that.“ So läßt der Schriftsteller seine Schrift ganz nah bei sich am Laufen. Wenigstens sich selbst verfolgt zu haben für Stunden: auch das ist Produktion, leicht paranoide.

Zudem schlägt ein permanenter Selbst-, Medien-, Minimalereigniskommentar unterhaltsame Brücken zum „Gala“-Tratsch der Intelligenzlerkaste. Prominente Menschen werden übern grünen Klee gelobt oder wie ebensolcher niedergemäht, die daily news gedreht und gewendet, Zeitungs- und sonstige Lektüren referiert und diskutiert. Am Ende eines langen Tages steht häufig Harald Schmidts abräumende „Harald-Schmidt- Show“ – und als sei's damit noch nicht genug, packt der Dichter auch dahinter noch eine spitze Bemerkung, kritische Analyse, ironische Pointe. Unerreichtes Highlight ist die Berichterstattung von der Buchmesse, wo der „Betrieb“ sich als Fege- und Freudenfeuer outet. Und im Berliner oder Münchner Lokalkolorit packt den Leser die reine Wiedersehensfreude. Heißt es hübsch konspirativ: „18.00 mit Luhmann raus“, so stellt man sich Goetz im Humboldthain auf einer von Tauben zugekackten Bank vor, über einer böse abgegriffenen Ausgabe von „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ brütend.

Solcher Kontemplation gibt sich der tapfere Postbürger Krausser mehr aus programmatischen Gründen hin. Mit Bildung gleich Leistung prescht er gegen das Feuilleton, dem er die Beliebigkeit der Geschmackskriterien verübelt – vorzugsweise da, wo sie ihn selber treffen. Feindbild steigert Ertrag: Wenn Krausser besserwisserisch die Verakademisierung der „Popkultur“ zerhäckselt, dann mit scharfzüngiger Eleganz. In „Oktober“, dem letzten Monatsbuch, geriert er sich als unverstandener, doch ingeniöser Sonderling, so daß sich das tägliche Exerzitium zwischen Selbstinterpretation, Schachpartie, Lektüren und konzentriertem Puccini-Lauschen liest wie die auftrumpfende Beweisliste eines universalbegabten Goethe- Epigonen: macht gar nix, denn „der Originalitätswahn seit 1919“, verteidigt sich Krausser schon mal provisorisch, sei ja auch nur ein hartnäckiger Mode-Gag. Verflixt, das ist schlau.

Nicht Haß, sondern ansteckender Enthusiasmus ist dagegen die hauptsächliche Woge, auf der „Abfall“ rollt. Wie Goetz vieles und irgendwie alles gut findet, sozusagen den ultimapositiven Kick aus Kunst- und Mediengeschehen zieht, läßt jede kritische Haltung zur bloßen Mäkelpose erstarren. Selbst jene Geschmacksdebatten, die er in Ermangelung eines direkten Gegenübers mit sich selbst austrägt, summen vor Lust an der Gleichzeitigkeit, am Für und Wider, am Paradoxen. Am Ende des Tagewerks steht meist, schwitzend, aber glücklich, die Begeisterung. Auch dann, wenn's einfach Scheiße lief und nichts weiter war als „brutale Panik“.

Mit steigender Schreibfrequenz scheinen wir uns dem gedanklichen Puls der Autoren zu nähern, der absoluten Sprachmusikversessenheit als Antrieb zur eigenhändig initiierten Metamorphose von Leben in Kunst. Krausser übersetzt lateinische Distichen in fünf deutsche Variationen und klamüsert oberlehrerhaft Sätze des Kollegen Raoul Schrott auseinander. Bonmots, Aphorismen und Dichtest-Lyrik, genannt „povera“, schmücken arty den täglichen Strip.

Bei Goetz wendet sich der gleiche Sprachfetischismus ins Dokumentaristische. Gleich seitenweise donnern recycelte Worte und Sätze entgegen, entnommen den von Plakatwänden, Bild-Zeitungen und -schirmen flackernden Fluten und darauf neu abgemischt. So scheint das diskursive Rauschen für Sekunden gebannt, indem es nahtlos und rigide in den Rechner gehämmert wird.

Jeden Denk- und Wahrnehmungsprozeß so unmittelbar wie möglich zu verschriftlichen und rezipierbar zu machen: unter der Bedingung, daß es „doch Spaß machen soll“, hat sich Goetz das aufgetragen. Ironisch rieseln manchmal bloß noch Sekundenziffern. Kraussers Mission dagegen lautet, jeden Denk- und Wahrnehmungsprozeß so schön wie möglich zu verdichten – mit solch kühnem Selbstbewußtsein, daß der Leser sich mit moralinenen Eitelkeitsvorwürfen nicht länger aufhalten mag. Das Diarium als Spielwiese überschreitet die Genregrenzen und ist doch gewissermaßen die Performance Art der Literatur.

Schließlich geht es weder Krausser noch Goetz um Befindlichkeit. Dies ist exakt, wogegen sie sadomasochistisch anschreiben: last exit der gerade noch erlaubten Selbstvergewisserung, des wenigstens rauschhaften Entzugs aus der triumphierenden Vergänglichkeit. Strahlend bis zähneknirschend rackern die Sisyphosse auf Identitäsbastionen, die sie verloren wissen.

Denn auch wenn eine beinah minutiöse Teilhabe am Denken und Tun des Diaristen garantiert wird, auch wenn die totale Verbalisierung ein Maximum an subjektiver Information generiert, verschwinden die Autoren-Ichs unvermittelt hinterm Dokumentationstreiben und Meinungsbilden. „Sehnsucht ist ein schöner Zustand. Wozu bejahen, was man ist?“ fragt Rainald Goetz. Je mehr Text, desto weniger klar umrissene Person, freut sich auch die Journalfetischistin, und damit genügend Platz fürs eigene Begehren, um in die fremden Häute zu schlüpfen. Wovon Krausser/Goetz dann doch wenig halten würden: „Völlig durchgeknallt“, findet Krausser den Kollegen Goetz, der zurücklacht: „Der Typ hat dermaßen einen an der Klatsche.“

Rainald Goetz: „Abfall für alle“ erscheint im Herbst 1999 bei Suhrkamp auf CD-ROM (ansonsten immer noch http://www .

rainaldgoetz.de)

Helmut Krausser: „Oktober“. München (belleville) 1998, „Juli August September“. Reinbek (Rowohlt) 1998