Airbag gegen den weißen Tod

Weltweit donnern jedes Jahr rund eine Million Lawinen die Berghänge herab. Etwa zweihundert Menschen werden von ihnen getötet. Lange Zeit galt der Tod durch eine Lawine als Gottesurteil. Heute versuchen Forscher, ihren Ursachen auf die Spur zu kommen. Das Schweizer Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos ist dabei führend. Aus einem Betonbunker heraus beobachten Wissenschaftler, wie künstlich ausgelöste Lawinen ins Tal abgehen  ■ Von Manfred Kriener

Lawinen sind majestätisch und faszinierend, grausam und gewalttätig. Sie mobilisieren die Urängste des Menschen und fordern die Wissenschaft heraus. Forscher aus Davos sind ihnen seit sechzig Jahren auf der Spur.

„Der sonnige Tag wurde finster, ich blickte auf, und über mir senkte sich ein schwarzfleckiges Ungeheuer von sechzig bis hundert Meter breiter Ausdehnung. Ich genoß eine rasche Beförderung in die Tiefe. Ich konnte alle anatomischen Veränderungen wahrnehmen, bis ich mir wie eine Jungfrau ohne Unterleib vorkam. Die Pressung nahm immer mehr zu, der Mund hatte einen Eisstopfen, die Augen waren wie ausgepreßt. Die Rippen knacksten wie ein verstimmtes Klavier, das Genick krachte, und ich dachte: Endlich ist es aus! Aber die Lawine spaltete sich in mehrere Teile und spuckte mich heraus.“ Lawinenopfer Matthias Zdarsky, dem wir diese Beschreibung verdanken, war am 28. Februar 1916 als Lawinenberichterstatter österreichischer Gebirgstruppen im Einsatz, als er von herabstürzenden Schneemassen überrascht wurde. Zdarsky überlebte mit achtzig Knochenbrüchen.

Sein Bericht gehört zum Archivschatz des Eidgenössischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung in Davos (ISL). Seit dem Jahr 1936, als in einer Holzbaracke unterhalb des Weissfluhjochs sechs Wissenschaftler begannen, Schnee systematisch zu messen, untersuchen die Schweizer Geheimnis und Wesen der Lawine. Heute hat das Institut einen Jahresetat von sechs Millionen Schweizer Franken, beschäftigt fünfzig Mitarbeiter und ist weltweit führend. Die Sammlung historischer Berichte über Lawinenunglücke ist Teil der Arbeit. In Kirchen- und Ortschroniken, in Zeitungs- und Augenzeugenberichten haben Menschen die Naturgewalten beschrieben. Immer wieder werden die zu Tale donnernden Schneemassen mit gefährlichen Raubtieren verglichen, dann wieder hat man Hexen auf dem Kamm der Schneefluten reiten sehen, die seelenruhig ihre Wolle spannen, während sie das Grauen über die Bergler brachten.

Lawinen wurden im 18. Jahrhundert als riesige, zu Kugeln zusammengerollte Schneeklumpen gemalt, die „mit entsetzlichem Krachen und Tosen“ ins Tal stürzten. Lange galten sie als Gottesurteil. Im 17. Jahrhundert grub man in Graubünden zur Gefahrenabwehr mit Kreuzen bemalte Hühnereier in den Fuß der gefährlichen Hänge. Chroniken berichten, herabstürzende Schneemassen seien mit dem einsetzenden Läuten der Kirchenglocken gestoppt worden. Die Ursachenforschung stocherte im trüben: Mal waren verfaulte Bäume, dann wieder Gemstiere oder „Pistolen und andere Feuerrohre“ der Grund für Lawinen. Noch in diesem Jahrhundert wurden die Glocken der Pferdefuhrwerke abgenommen, und die Kinder aus den Bergdörfern mußten sich auf dem Schulweg vollkommen still verhalten, damit unbedachte Geräusche keine Lawinen auslösen. Erst vor wenigen Jahren machten Experimente mit Düsenjägern Schluß mit dem Irrglauben, daß Schallwellen die Schneemassen in Bewegung bringen.

Dennoch: „Wir können auch heute nicht wirklich fundiert nachweisen, warum eine Lawine entsteht“, sagt Walter Ammann, Leiter des Davoser ISL. Sechs Jahrzehnte Forschung haben aber zumindest die Bedingungen für Lawinenabgänge verständlich gemacht. Warnsysteme sind entstanden, die heute eine Treffergenauigkeit von siebzig Prozent haben. Und: Vier Milliarden Franken hat die Schweiz in den letzten fünfzig Jahren in Schutzbauten investiert, die, wenn man sie hintereinanderstellte, vierhundert Kilometer lang wären.

Initialzündung war der Katastrophenwinter 1950/51. Es war ein Schreckensjahr für unsere Nachbarn: 98 Schweizer starben in einem wahren Lawinenhagel, das ganze Land stand unter Schock. Die Berner Regierung rief den Notstand aus. Seitdem wurden die wissenschaftlichen Anstrengungen forciert, das rücksichtslose Abholzen der Bergwälder gestoppt und die Hänge mit Bremshöckern, Dämmen und Schutzmauern verbaut.

Aber können Lawinen überhaupt aufgehalten werden? Welche Kräfte besitzt das grollende Untier? Um die Lawinendynamik genauer zu erfassen, hat das ISL im Jahr 1997 ein neues Testgelände im Walliser Sion-Tal in Betrieb genommen. In einem lawinensicheren Betonbunker sitzen die Wissenschaftler am Fuße des Hangs und beobachten aus schießschartenähnlichen Fenstern den Berg. Stahlpfeiler, Gittermasten, Prallwände und sogar ein Stück Straßengalerie sind in das Versuchsgelände eingebaut. Die Hindernisse sollen die Kräfte der Lawinen testen – und ihre eigene Standfestigkeit. In günstigen Wintern, so hofft Schneekundler Ammann, werden hier bis zu fünf gewaltige Lawinen niedergehen, deren Geschwindigkeit und Dynamik das Dopplerradar erfaßt. Die gewonnenen Daten sollen die virtuellen Lawinen in der Computermodellierung präzisieren.

Die Lawinen am Testberg werden künstlich ausgelöst. Dazu werfen Hubschrauber Sprengsätze ins Anrißgebiet in etwa 2.500 Meter Höhe. Nach einer erfolgreichen Zündung registrieren die aufgestellten Sensoren ein leichtes Beben. Die aus der Erdbebenforschung bekannten Instrumente aktivieren automatisch Filmkameras und Meßgeräte. Auf diese Weise können – auch nachts – genausogut natürliche Lawinen erfaßt werden, die ohne künstliche Starthilfe ins Tal donnern.

Etwa eine Million Lawinen gehen weltweit Jahr für Jahr nieder. Zweihundert Menschen werden von ihnen erschlagen, erdrückt, erstickt, davon die Hälfte im dichtbesiedelten Alpenraum. Lawinen erreichen Geschwindigkeiten von bis zu 350 Stundenkilometern. Die archaische Urgewalt, mit der sie Felsen und Häuser in die Tiefe reißen, entspricht einem Druck von bis zu 100 Tonnen je Quadratmeter. Ammann vergleicht die Kräfte mit einer Lokomotive, die in voller Fahrt ein Haus rammt.

Menschen, die in solch rasende Schneemassen geraten, haben kaum eine Chance. Ausgegrabene Opfer sehen oft fürchterlich aus, mit grotesk verdrehten Gliedmaßen. Eingeschlossen im Schnee, liegt die Überlebenswahrscheinlichkeit nach einer Stunde bei nur dreißig Prozent. Aber immer wieder geschieht ein kleines Wunder. In der Ortschaft Bergelometto in Piemont überlebten drei verschüttete Frauen 37 Tage lang, bevor sie befreit wurden. In einem zusammengestürzten Stall hatte sich unter der weißen Flut ein Hohlraum gebildet, in dem Maria Anna Rocchia mit ihrer Schwägerin und Tochter zusammen mit einer trächtigen Ziege kauerte. Die Ziege warf ein Junges, das von den Frauen getötet wurde. Die Milch des Muttertieres rettete drei Leben.

Wie vielen Menschen die Schweizer Wissenschaftler das Leben gerettet haben, ist schwer abzuschätzen. Ihr tägliches Lawinenbulletin gehört inzwischen zum festen Inventar für Skifahrer und Bergwanderer. Im Zweiten Weltkrieg wurde das erste Bulletin herausgegeben, um die Soldaten zu warnen. Heute soll es vor allem der Touristenlawine dienen, die den Großteil der gefährlichen Schneeabstürze selbst auslöst. Fünf Abstufungen kennt die Skala der Lawinengefährlichkeit: leicht, mäßig, bedeutend, stark und sehr stark. Das Heimtückische: „Schon bei Gefahrenstufe zwei (,mäßig') passieren etwa ein Viertel aller tödlichen Lawinenunglücke“, sagt ISL-Forscher Ammann. Offenbar wird diese Einstufung als Entwarnung mißverstanden.

Um die Gefahr einzuschätzen, ermitteln vierzig automatische Meßstationen und achtzig freiwillige Helfer in den Schweizer Alpen täglich Temperatur und Wind, Schneehöhe und Neuschnee. Zusätzlich gehen die Forscher des ISL mit der Lupe ins Versuchsfeld, um ein Profil der Schneedecke zu ermitteln. Akurat stechen sie in den Versuchsfeldern große Quader aus, um Millimeter für Millimeter jenen Stoff zu untersuchen, für den die Inuit zweihundert verschiedene Begriffe kennen, wir vor allem einen: Schnee. Die Struktur bleibt niemals konstant. Schnee verändert sich ständig, verhärtet, vereist, schmilzt, verklumpt und bleibt immer in Bewegung. Unter dem Eigengewicht kriecht er langsam den Hang hinunter. Und machmal wird aus dem Kriechen die rasende Fahrt einer tödlichen Lawine.

Wind, Neuschnee und starke Temperaturveränderungen sind die drei gefährlichsten Katastrophenboten. Heftiger Wind gilt als Baumeister der Lawinen. Er transportiert riesige Schneemengen und türmt sie an den Windschattenseiten der Berge auf, wo sie eine fragile Bombe bilden. Kräftige Neuschneefälle verändern die Tektonik und liefern neuen Stoff. Und wenn Tauwetter einsetzt, der Schnee matschig und weich wird, kann er die Haftung mit der Unterlage verlieren und den Berg hinunterstürzen. Latente Rutschbahnen bilden sich aber auch nach einem Kälteeinbruch, wenn die angetaute Schneeoberfläche zur Eisbahn gefriert. Neugefallener Schnee verbindet sich dann schlecht mit der glatten Unterlage und rutscht ab.

Die Lawinendynamik zu verstehen und Schneeprofile zu lesen, ist nur ein Teil der Forschungsarbeit. Neue Technologien zur Gefahrenabwehr sind ein anderer Schwerpunkt. Das ISL hat Geräte getestet, die Funksignale von Verschütteten auffangen sollen. Auch ein Lawinen-Airbag gehört zur High- Tech-Überlebenshilfe. Der Ballon soll sich im Ernstfall aufblasen und die Opfer an die Oberfläche katapultieren, wo sie im besten Fall auf der Lawine mitsurfen. Versuchsreihen mit Dummies zeigen, daß die Überlebenschancen steigen. Nur: Wer kauft sich solch eine teure Ausrüstung und schnallt sie dann auch noch um? Wie schrieb die Berner Zeitung: „Lockt der Pulverschnee, bockt der Verstand.“

Manfred Kriener, 44, ist freier Autor in Berlin. Bis 1990 arbeitete er als Ökoredakteur bei der taz.