Der neue Boß spricht niederländisch

Seit Venloer Firmen offene Stellen auch jenseits der Grenze ausschreiben, heuern immer mehr deutsche Facharbeiter vom Niederrhein in expandierenden niederländischen Betrieben an – trotz längerer Wege und geringerer Löhne  ■ Von Henk Raijer

„Über de Grenz auf Arbeit? Mach ich nich, ich bin doch kein Gastarbeiter!“ Jeden Tag bekomme er das zu hören, erzählt Anton Platon achselzuckend, der Niederrheiner pendele nun mal nicht gern. Viersen sei okay, Gladbach auch noch. Aber Duisburg? Oder gar Holland? „Viele unserer Stammkunden packt die Angst, wenn ich von den neuen Jobs in Venlo anfange“, sagt Anton Platen, Arbeitsamtsleiter im Grenzort Nettetal.

Schlosser, Schweißer, Dreher, Lagerarbeiter oder Lkw-Fahrer – seit im Nachbarland die Wirtschaft boomt, werden arbeitslose Deutsche von holländischen Unternehmen umworben. Im Musterland Europas, wo die Zahl neugeschaffener Arbeitsplätze deutlich schneller steigt als im EU-Durchschnitt und die Arbeitslosenquote unter 4 Prozent liegt, haben manche Branchen Probleme, Leute zu finden. Doch trotz der Kunde von den Jobs vor der Haustür schrecken viele Niederrheiner vor einem Gastspiel bei den „Käsköppen“ zurück. „Noch“, versichert Anton Platen.

„Hier sind alle per du, auch mit den Chefs“

Seit im Herbst 1997 Venloer Firmen anfingen, offene Stellen auch deutschen Arbeitsämtern zu melden und private Arbeitsvermittler anheuerten, um „drüben“ zu rekrutieren, hat allein Platens kleine Dienststelle in Nettetal über 400 Arbeitsuchende in die Industrieregion Venlo vermittelt. Und das, obwohl sie wegen der geringeren Bruttolöhne dort Gehaltsabstriche um einige hundert Mark netto in Kauf nehmen müssen. Doch bei der relativ hohen Arbeitslosigkeit im Kreis Viersen, die über dem Bundesdurchschnitt von 12 Prozent liegt, so Platen, sähen viele das „Abenteuer Holland“ als ihre letzte Chance.

Und „wir kapieren bis heute nicht, warum wir nicht schon früher auf die Idee gekommen sind, mal jenseits der Grenze nachzufragen“, heißt es auf der anderen Seite der Grenze in der Personalabteilung bei Jabro Tools in Lottum. Der 85 Mitarbeiter zählende Betrieb nördlich von Venlo, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu Rosen- und Schweinezüchtern Präzisionswerkzeuge für die Auto- und Flugzeugindustrie produziert, beschäftigt inzwischen acht junge Facharbeiter aus Deutschland – Anfangsgehalt 2.300 Mark netto.

Schichtdienst und Anfahrtsweg waren für Markus Küppers aus Breyell kein Hindernis. Der gelernte Kfz-Mechaniker war ein Jahr ohne Job, bevor er im März 1997 zu Jabro Tools kam. Angelernt wurde der 22jährige im Betrieb. „Es braucht eine Weile, bis man alle Kniffe bei der Arbeit an den computergesteuerten Schleifmaschinen draufhat“, schreit Küppers durch den Lärm in der Halle und tritt von der Steuerungskonsole zurück, die er gerade bedient. Er hat sich an das Pfeifen und Schnarren bei der automatischen Bearbeitung von Metallbohrern gewöhnt und hört sogar das Radio noch, das, wie in holländischen Betrieben üblich, die gesamte Schicht über dudelt.

Probleme wegen der Sprache hatte der Niederrheiner, der zu Jahresbeginn eine Festanstellung erhalten hat, nicht: „Die Programmatur der Anlagen ist ja auf deutsch.“ Dennoch möchte er Niederländisch lernen. Das kann er im Betrieb: einmal wöchentlich zwei Stunden, eine davon in der Arbeitszeit. Da kann Küppers dann auch seinen Kollegen Sascha Franke (27) aus Krefeld treffen, der nach vier Monaten Arbeitslosigkeit im Mai 1997 bei Jabro Tools angefangen hat. Franke steht in der Halle und prüft per Tastendruck, ob in seiner Anlage die Kühlwasserzufuhr stimmt. Mit einem Lappen wischt er sich die verölten Finger ab. Er hat seine Entscheidung noch nicht bereut. „Die Atmosphäre ist angenehmer als in deutschen Betrieben“, sagt er, „hier sind alle per du, auch mit den Chefs. Vor allem aber geben sie dir das Gefühl, daß deine Arbeit was zählt“, schwärmt er.

„Geködert“ wurden Sascha Franke und Markus Küppers von einer privaten Abeitsvermittlung – wie die meisten der etwa 3.000, überwiegend männlichen Grenzgänger, die seit Anfang 1998 die Seite gewechselt haben. Venloer Betriebe rekrutieren neue Leute inzwischen nur noch über uitzendbureaus, wie Randstad, Start, Adecco oder Dactylo. Einmal die Woche sprechen die Emissäre holländischer Zeitarbeitsfirmen in Arbeitsämtern und Berufsbildungsstätten vor, um Fräser, Lageristen oder Zeichner über die Grenze zu locken.

So auch in der FAA (Facharbeiterausbildung) Mönchengladbach, einem privaten Bildungsträger, der Lehrgänge für gewerblich-technische Berufe durchführt. Der ein oder andere Kursteilnehmer habe seinen Vertrag mit dem uitzendbureau schon unterschrieben, bevor die Umschulung beendet war, berichtet ein Ausbilder. Die meisten FAA-Absolventen jedoch zögen eine besser bezahlte Festanstellung in Düsseldorf einem zunächst zeitlich befristeten Job in Venlo vor. „Für ein Anfangsgehalt von 2.000 netto stehen die erst gar nicht auf.“ Sascha Franke schon.

Bereits vor Beendigung seines Fräserlehrgangs bei der FAA hatte der Krefelder das Angebot von Jabro Tools in der Tasche – durch Vermittlung der Zeitarbeitsfirma Dactylo. „140 Deutsche haben wir in diesem Jahr in der Region Venlo zu einem Job verholfen, 70 von ihnen wurden fest übernommen“, erzählt Michael Elsenbach.

„Mit dem Geld kommste bei uns nich hin“

Bei Infoveranstaltungen wie an diesem Tag in der FAA indes stößt der „Deutschlandbeauftragte“ von Dactylo auch auf Mißtrauen. „Zeitarbeitsfirmen haben hier nach wie vor das Image von Sklavenhändlern, die den großen Reibach machen und die Leute über den Tisch ziehen“, sagt der 30jährige Krefelder, der selbst als Leiharbeiter zu seinem Job bei Dactylo gekommen ist. In Holland sei die private Vermittlung von Arbeitskräften längst eine seriöse Sache, so Elsenbach. In Deutschland dagegen „muß ich den Leuten, bevor ich ihnen alles über Zeitverträge, Steuern oder Rentenansprüche erzähle, erst mal beweisen, daß wir keine Drückerbande sind“. „Wat is, wenn die mich nach drei Monaten nich haben wollen?“ – „Bin ich da krankenversichert?“ – „Wie soll dat später mit meiner Rente gehen?“ Elsenbach verschweigt seinen Zuhörern in der FAA nicht, daß man in Holland nicht auf Anhieb einen festen Arbeitsvertrag bekommt. Von Billigjobs jedoch könne keine Rede sein. „Uitzendbureaus“, die in den ersten drei Monaten als Arbeitgeber auftreten, zahlten ihren Kunden den Tariflohn der Firmen aus und führten Sozialbeiträge ab.

„Bei Dactylo haben wir im Prinzip zwei Kunden: den Arbeitsuchenden und die Firma, die sucht. „Beide sollen zufrieden sein, an beiden wollen wir verdienen. Also schicken wir die Leute, die wir anwerben, nicht einfach mit einem Zettel wohin, und das war's dann. Nein, wir wollen jeden persönlich kennenlernen. Wir machen uns ein Bild, erstellen ein Profil und schicken den Firmen dann die Lebensläufe. Auf diese Weise bekommt das Unternehmen von uns maßgeschneidertes Personal geliefert“, erklärt Betriebswirt Elsenbach.

Geschätzt würden die deutschen Kollegen in Holland, weil sie keine Scheu hätten, sich die Hände dreckig zu machen. „Leute, die jahrelang bei Thyssen oder Krupp beschäftigt waren, sind Dreck und Krach gewöhnt“, weiß Elsenbach. Auch wenn sich die Nachfrage auf die technischen und damit klassischen Männerberufe konzentriere, so habe Dactylo im Prinzip alles im Angebot: von der Putzfrau bis zum Steuerberater. Und das Alter? „Spielt keine Rolle. Zwischen 18 und 55 Jahren sind bei uns alle Altersgruppen vertreten.“

Auch wenn in Holland ein Bewerber aufgrund seines Alters nicht abgelehnt werden darf, müssen sich ältere Grenzgänger zumeist mit schlechtbezahlten Tätigkeiten in der Produktion begnügen. Etwa beim Venloer Kopiergerätehersteller Océ van der Grinten. 35 Deutsche hat der Technologiemulti, der in der Produktion rund 2.000 Mitarbeiter beschäftigt, 1998 eingestellt. Unter ihnen Karl Tervooren aus Straelen und Horst Keuchel aus Mönchengladbach. „Wenn du über 50 bist, hast du bei uns keine Chance mehr“, meint der Elektriker und Industriekaufmann Keuchel. Die meisten deutschen Kollegen hätten daher, was das Geld anlange, ihre Erwartungen runtergeschraubt.

„Mit dem Geld, dat de hier kriegst, kommste bei uns nich hin“, sagt Karl Tervooren, der früher als Gärtner gearbeitet hat. Heute trägt seine Frau mehr zum Familieneinkommen bei. Der wortkarge 50jährige kramt einen Lohnzettel aus der Hosentasche hervor, auf dem er sein Monatssalär umgerechnet hat: 1.835,43 Mark. „Da sind sogar zwei Überstunden mit bei.“ Anders als Karl Tervooren, der meint, sich mit den Kollegen aus der Vormontage in seinem Dialekt verständigen zu können, lernt Horst Keuchel bei seinem Arbeitgeber Niederländisch. „Ich möchte“, so Keuchel, „bei Océ, wenn möglich, noch ein wenig vorankommen.“

Niederländisch lernen – das wäre auch für Triantafillos Tsiriktsidis ohne weiteres vorstellbar. Bereits die Eltern des 28jährigen Elektrikers aus Nettetal zogen als „Gastarbeiter“ in ein anderes Land. Der Grieche, der sich bis März in der FAA weiterbildet, könnte sich vorstellen, jeden Tag nach Holland zu fahren, „auch wenn's weniger Geld gibt als bei uns“. Neulich hat sich Tsiriktsidis einige Betriebe in Venlo angesehen: „Die zeigten echtes Interesse an mir.“ Man habe ihm gleich den ganzen Betrieb gezeigt und ihn mit anderen Deutschen bekannt gemacht – „damit man weiß, wo man später arbeiten wird“.

Von Vorurteilen holländischer Kollegen gegen die Deutschen hat zumindest Horst Keuchel in seinem Betrieb bislang nichts verspürt. Klar gebe es Sprüche, wenn die Einkaufstouristen „von drüben“ mal wieder die Stadt lahmlegten. Wenn Deutsche den Einheimischen die besten Häuser wegschnappten oder „die Mannschaft“ gegen Holland spiele. „Aber ich arbeite hier ohnehin mit Dutzenden von Nationalitäten zusammen“, meint Keuchel. „Die passen hier bei Océ schon auf, daß am Arbeitsplatz keine deutschen Enklaven entstehen.“