Das Unbehagen in der Familie

Ironie des Gemeinwesens: Wenn die deutsche Familie feiert, kommt es zu irritierenden Kulturschockerlebnissen zwischen Ostlern und Westlern. Die kulturellen Erfahrungen unterscheiden sich vor allem in den Grenzziehungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit  ■ Von Dirk Baecker

Nein, die Mauer in den Köpfen gibt es nicht mehr. Sie ist zwischen Ost- und Westdeutschen einer präzisen wechselseitigen Irritierbarkeit gewichen. Man weiß, was an den anderen mißfällt, wenn auch nicht unbedingt, warum das so ist. Die Irritation resultiert nicht daraus, daß man den anderen nicht versteht. Sie resultiert daraus, daß man sich selbst nicht mehr versteht, und genau das ist es, was man als einen „Kulturschock“ beschreiben kann. Es gibt verschiedene Gelegenheiten, bei denen man diese wechselseitige Irritation beobachten kann. Familienfeiern sind eine der besten Gelegenheiten, weil ihr Ritualisierungsgrad häufig so hoch ist, daß in der Spannung zwischen akzeptiertem Ritual und subjektivem und individuellem Empfinden jede Abweichung um so schärfer und störender ins Gewicht fällt. Weil bei solchen Gelegenheiten der eigene Tonfall längst aufs Eingespielte getrimmt ist, wird der abweichende Tonfall der anderen um so auffälliger.

Vielleicht sollte man den Schocktherapeuten der Transformationsgesellschaften empfehlen, ihre Bevölkerung ein Jahr lang ein Familienfest mit gemischter Besetzung, mit Gewinnern und Verlierern, Alten und Jungen, Reichen und Armen, feiern zu lassen, mit allem, was dazu gehört. Danach, dessen kann man sicher sein, liegen in offenem Streit alle Probleme auf dem Tisch. Die psychischen Kosten sind um so eher zu rechtfertigen, je mehr das Ergebnis einer neu gefundenen Sozialordnung auch die Opfer überzeugt. Was also sieht man bei solchen Festen? Man sieht zum Beispiel, daß der Unterschied zwischen Privatheit und Öffentlichkeit in Ost und West ganz anders gehandhabt wird. Und man sieht, daß niemand genau weiß, wie er weiterhin gehandhabt werden kann. Zumindest wird einem klar, daß man das nicht weiß, wenn man Gelegenheit hat, ein Fest mit gemischter Ost-West-Besetzung zu feiern. Ein haarfeiner Riß durchzieht das Selbstverständnis der Feiernden. Und an diesem Riß entzündet sich der Streit, ein Streit mit sich selbst. Im Osten spielt die Unterscheidung zwischen privatem Leben und öffentlichem Leben eine genauso große Rolle wie im Westen. Aber die Akzentuierungen sind jeweils andere. Und unklar ist gegenwärtig, welche Akzentuierung sich durchsetzen wird. Denn attraktiv sind beide Varianten, auch für die andere Seite.

Öffentliche Rolle in gemütlicher Runde

Was also hat es auf sich mit diesem Öffentlichen und diesem Privaten? Wichtig ist zunächst, daß die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat nicht etwa ganze Welten oder Seinssphären trennt. Es ist nicht so, daß man sich in der Familie strikt privat und in Ämtern, Schulen, Speisewagen und bei der Arbeit strikt öffentlich verhält. Vielmehr spielt man in der Öffentlichkeit mit seinen privaten, mit seinen „menschlichen“ Möglichkeiten. Man fährt sie ein, man läßt sie durchblicken, man hält sie auch auf Distanz und man testet diejenigen der anderen. So setzt man sich allmählich ins Benehmen. Und umgekehrt spielt man im Privaten mit seinen öffentlichen, mit seinen „gesellschaftlichen“ Möglichkeiten. Man testet Verständnis für Job, Karriere, politische Präferenzen und Sportleidenschaften. Man stellt sich als etwas dar, was privat nur zur Geltung kommen kann, aber nicht auf die Probe gestellt werden kann: als großartiger Kaufmann, unbestechlicher Experte, schwieriger Dichter, und erprobt diese öffentlichen Rollen in gemütlicher Runde.

Dafür haben die anderen dann entweder Verständnis, weil sie es ähnlich tun, oder sie haben kein Verständnis, weil sie nicht mitspielen können oder wollen. Entscheidend ist nun, daß dieses Vorkommen der Unterscheidung auf den beiden Seiten der Unterscheidung im Westen und im Osten unterschiedlich gehandhabt wird. Im Osten dominiert die private Seite. Das Private ist die Innenseite der Unterscheidung, wenn man im Sinne des mathematischen Kalküls von George Spencer-Brown („Gesetze der Form“, Bohmeier Verlag 1997) von einer zweiseitigen Unterscheidung ausgeht, deren Innenseite die betonte, die präferierte, die für Anschlußhandlungen präparierte Seite ist. Das Öffentliche wird nur vom Privaten aus sichtbar und zugänglich. Und vor allem: Es wird auf Distanz gehalten.

Gründe dazu gab es genug. Die sozialistische Ideologie optierte so, weil sich für sie im Öffentlichen die gesamte Reichweite gesellschaftlicher Möglichkeiten abspielte, die im Sozialismus keinen Raum erhielt (freier Handel, Karrieren, Reisen). Und die Bevölkerung optierte so, weil sie nur so einen Schutzraum gegenüber den Zumutungen dieser Ideologie und den Gefährdungen durch die Staatsmacht, die diese Ideologie exekutierte, sicherstellen konnte. Nirgendwo vielleicht waren sich Politiker und Bürger daher ironischerweise einiger als in dieser Ablehnung einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit und darin, daß die Fülle der menschlichen Möglichkeiten sich im Privaten zeigt und auch nur dort bewährt. Selbst das Politbüro war nur eine kleine Familie.

Der Westen trifft die Unterscheidung anders. Hier ist die Öffentlichkeit, hier ist die „Gesellschaft“ der dominierende, der markierte Wert, und das Private wird vom Öffentlichen aus sichtbar und zugänglich. Ob es die Familie ist, die Freundschaft, die Liebe oder das Kneipengespräch: Es zählt als Experimentierfeld gesellschaftlicher Möglichkeiten und Absichten und muß sich seinerseits dagegen und damit profilieren. Beim Abendessen mit Freunden wird nicht die eigene Menschlichkeit unter Beweis gestellt, sondern eine gesellschaftliche Identität erprobt und sogar gemacht, die es dann „draußen“ auf neue Geschäfte, neue Beschäftigungen und neue Bücher ankommen lassen kann.

Ein Schutzraum für Innerlichkeit

Das Private bewährt sich daran, daß es den Test erlaubt, daß es schneller vergißt, wenn es mal nicht klappt, daß es aber auch länger erinnert, wenn man Zeit braucht für bestimmte Pläne, die nicht umstandslos zu realisieren sind. Vielleicht kann man sogar sagen, daß das Private das Gedächtnis dessen ist, was im Öffentlichen nur auf dem Spiel stehen kann. Im Privaten leckt man sich daher die Wunden. Dort findet man Rückhalt für eine Identität, für die draußen im Moment vielleicht niemand einen Sinn hat. Und dort wird man zuweilen unangenehmerweise auch erinnert an Pläne, die draußen längst gescheitert sind. Aber mit all dem zieht man sich eben nicht ins Private zurück. Sondern man braucht es, um sich auf das Öffentliche, das „Gesellschaftliche“ vorzubereiten.

Es ist daher kein Wunder, daß man bei privaten Festen anfängt, sich zu streiten. Im Osten kommt es darauf an, das Öffentliche draußen zu halten, einen Schutzraum für Menschlichkeit und Innerlichkeit zu installieren, der dann auch genutzt werden kann, sich über das, was „draußen“ abläuft, wach, schnell und hell zu verständigen. Im Westen wirkt dies auf den ersten Blick charmant, weil man den Eindruck hat, daß hier die Inszenierung der Familie, der Personen viel besser, viel intimer gelingt. Doch dann stößt man auf die Ablehnung der Öffentlichkeit und fühlt es plötzlich eng werden. Man kommt mit seinen gesellschaftlichen Möglichkeiten nicht vor, wenn man sie nicht gleichzeitig als Ablehnung dieser Möglichkeiten codiert. Und genau das interessiert den Westler nur höchst partiell, nur dann nämlich, wenn man eine Erfahrung des Scheiterns zu verarbeiten hat. Aber es interessiert nicht dauernd und schon gar nicht als ständig mitlaufende Verteidigungsdevise, weil man ja immer auch nach neuen Möglichkeiten Ausschau hält. Darum wirken Westler auf Ost-West-Familienfeiern allzu ideologisch und inszeniert und Ostler allzu gemütlich und beschränkt – ohne daß man sicher sein könnte, daß das nicht auch umgekehrt gilt. Und plötzlich kann man sich des Eindrucks eines Unterschieds, wenn auch eines sich aufhebenden Unterschieds, gar nicht mehr entziehen und weiß überhaupt nicht, woher er kommt.

In Hegels „Phänomenologie des Geistes“ werden die Frauen als „Ironie des Gemeinwesens“ beschrieben, weil es ihnen immer wieder gelingt, öffentliche Zwecke in Privatzwecke zu verwandeln oder auf ihre Privatzwecke hin zu durchschauen. Im deutsch-deutschen Binnenverhältnis ist der Osten auf dem besten Wege, diese Rolle der Ironie des Gemeinwesens zu übernehmen. Denn in jedem Gespräch mit einem Ostler sieht man die hehren Werte der „Demokratie“, der „Marktwirtschaft“, der „freien Schulbildung“ zerbröseln, weil sie ebenso auf Parteibürokratien, industrielle Machenschaften und Disziplinarmaßnahmen zurückgerechnet werden, wie dies sich für den Osten immer schon bewährt hat.

Die Ironie des Westens, darauf macht der Blick des Ostlers unbestechlich aufmerksam, liegt ebenso im Konterkarieren der Ideologien durch Organisationen, wie dies im Osten für das Schicksal des Sozialismus auch schon galt. Der Westler verweist dann auf die Konkurrenz der Organisationen untereinander – immerhin gibt es mehr als eine –, aber weiß er, nach welchen Regeln dieses Spiel gespielt wird? Der Osten fühlt sich in dieser Rolle der Ironie des Gemeinwesens nicht wohl, denn der Beitritt zielte auf die Teilnahme an allen gesellschaftlichen Möglichkeiten. Aber er spielt diese Rolle virtuos, solange ihm gar nichts anderes übrigbleibt. Noch weniger wohl fühlt sich dabei der Westen. Denn ihm wird genau die Ressource entzogen, die er für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Optionen, für das Ausprobierenkönnen einer Wahl, postulieren mußte: die Ressource des Privaten.

Bei Familienfeiern kommt die Ironie besser als bei anderen Gelegenheiten zum Tragen. Wie könnte und wollte man dann noch erproben, was im längst Ironisierten zu erreichen ist? Bei Familienfeiern hat man Zeit genug, dies alles zu erleben, und Muße, es zu beobachten. Aber diese wechselseitige Irritation beschränkt sich nicht auf private Feste. Man kann ihr jederzeit und überall begegnen. Man wird sie längerfristig nur abbauen können, wenn es gelingt, das im Osten kultivierte und im Westen noch längst nicht abgeschaffte Mißverständnis zu beheben, daß das Öffentliche und Gesellschaftliche mit dem Politischen identisch ist.