„Einfache Leute kriegen das wohl nicht“

■ Keine HIV-Prophylaxe für Vergewaltigungsopfer? Klinik Links der Weser wimmelte die Anfrage einer Betroffenen ab, erst die St. Jürgen Klinik half / Aber: „Das ist kein Aspirin, das ist ein Knaller“, heißt es

Die vergangene Woche war für Karen S.* Horror. Am frühen Sonntag war die 19jährige von einem Unbekannten in Kattenturm brutal vergewaltigt worden. Auf Angst und Schmerz folgten ärztliche Untersuchungen, Vernehmungen – und neuerdings unangenehme Nebenwirkungen eines Medikaments, das die junge Frau gegen eine mögliche HIV-Infektion bekommt. Dafür haben sie und ihre Eltern gekämpft.

Der Hinweis war von einer Bekannten gekommen. Danach gab es ein solches Präparat für Klinikpersonal, das mit HIV-kontaminiertem Material in Kontakt kam. Eltern und Vergewaltigungsopfer waren alarmiert. Ein wohltuender Alarm im Vergleich zur aufkommenden Panik darüber, daß der flüchtige Vergewaltiger möglicherweise HIV-infiziert ist. Doch im Krankenhaus Links der Weser – „wo meine Tochter vorher gut behandelt worden war“, wie die Mutter sagt – hieß es nur: „So ein Medikament kennen wir nicht.“

Die Eltern gaben im Kampf gegen die Panik nicht nach. Der Vater landete in der St. Jürgen Klinik. Dort war bekannt, was man auch im Krankenhaus Links der Weser hätte wissen können: Es gibt Medikamente, deren Anwendung eine Richtlinie des Landesgewerbearztes und des Arbeitsmedizinischen Dienstes den Betriebsärzten aller städtischen Kliniken empfiehlt – wenn Beschäftigten die Gefahr einer HIV-Infektion droht.

In der St. Jürgen Klinik machte man die Anfrage des Vaters von Karen L. zur Chefsache. Er bekam das Medikament. „Wir sind dieser Klinik sehr dankbar“, sagt er. Daß jede Stunde zählte, habe er gewußt. Dem Präparat wird bei schneller Verabreichung höhere Wirkung zugeschrieben. „Am besten zwei Stunden nach der mutmaßlichen Infektion“, sagt der Mediziner Karl-Heinz Mörsdorf von der „Aids-Beratung. Gesundheitslotsen. Fortbildung“ der Hamburger Gesundheitsbehörde. Kollegen empfehlen mitunter auch „maximal 24 Stunden danach“. Alle nennen die Vergabe an einen Zweifelsfall, wie ihn Karen S. medizinisch darstellt, eine „Gewissenfrage“ – denn man wisse nicht, ob der Täter infiziert war. Die Mutter der Vergewaltigten sagt: „Ich habe das Gefühl, das Medikament ist wohl zu teuer für einfache Leute.“ Und: „Bis wir das Ergebnis vom Aids-Test haben, wäre es vielleicht zu spät.“

Teuer ist das verabreichte Kombinations-Präparat, das aus drei virenhemmenden Stoffen besteht, in der Tat. Die Mindestgabe kostet zwischen 2.000 bis 3.000 Mark. Doch Mediziner warnen vor allem vor „teils erheblichen“ Nebenwirkungen. „Das ist kein Aspirin, das sind Knaller“, heißt es. Übelkeit dürfte eine der harmlosen Begleiterscheinungen sein – die bis zum veränderten Blutbild reichen können. Deshalb müßte vorm Verschreiben die Notwendigkeit gegen die Risiken genau abgeschätzt werden. „Voraussetzung ist immer, daß Patienten einem echten HIV-Infektionsrisiko ausgesetzt waren“, heißt es in der Giftnotrufzentrale der St. Jürgen Klinik. Im Falle eines unbekannten Vergewaltigers sei das natürlich schwer festzustellen. Der Hamburger Fachmann Mörsdorf sagt dennoch: „Ich würde es meiner Tochter nicht geben.“ Das HIV-Infektionsrisiko sei gering. „Von 80 Millionen Menschen in Deutschland sind 15.000 HIV-infiziert“ – die Chance, daß darunter der Vergewaltiger sei, mithin minimal.

Diese Einwände gegen die Prophylaxe im Zweifelsfall kennt auch der Betriebsarzt der St. Jürgen Klinik. Wie viele Kollegen betont er, daß auch die Wirkung der Medikamente noch nicht ausreichend erforscht sei. Für die betroffene Familie – wie auch für den Arzt, der das Medikament ausgegeben hat – machte das nicht den Unterschied. „Wir wollten kein Risiko“, sagt auch die Mutter des Vergewaltigungsopfers.

Mittlerweile gibt es sogar Empfehlungen in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“, wonach die Kassen das Medikament auch für „privat Exponierte“ – im Unterschied zum bislang besser geschützten Klinikpersonal – bezahlen sollen. Im Hamburger Institut für Tropenmedizin wird in solchen Fragen bereits rund um die Uhr beraten – und behandelt. „In Bremen wird das Thema gerade angedacht“, sagt Hans-Joachim Schnittert vom Gesundheitsamt. Die Klinik Links der Weser hat auf eine Bitte der taz vor vier Tagen nach einer Stellungnahme noch nicht reagiert. ede

*Name geändert