Der Kapitalismus ...

... bringt mich noch um! Mit zwei älteren Damen unterwegs im armen Osten  ■ Von Gabriele Goettle

Der treue Antiquar übergab uns unlängst eine Liste aller Suppenküchen, Wärmestuben, Nachtcafés, Kleiderkammern und kirchlichen Kuchenstuben Berlins. Er war sehr stolz darauf, all die verstreuten Ankündigungen und Öffnungszeiten zusammengetragen zu haben. Wir saßen in der Armenausspeisung der Adventisten in Spandau und lobten ihn sehr. Unsere Tischnachbarinnen, zwei damenhaft wirkende Frauen aus der ehemaligen DDR, zeigten großes Interesse an dieser Liste, und wir versprachen, ihnen Kopien davon mitzubringen. Sie erklärten, sich täglich, außer montags und donnerstags, zum Mittagessen in der Wollankstraße einzufinden. Dort seien sie zuverlässig bis 14.30 Uhr anzutreffen.

An einem Sonntag Mitte Februar fahren wir zum Kloster in der Wollankstraße, auf die Gefahr hin, die beiden Damen nicht anzutreffen. Es schneit und die Temperatur liegt so um null Grad. Die breite Wollankstraße wirkt wie ausgestorben, kein Fußgänger ist zu sehen, nur ab und zu fährt ein Auto vorbei und spritzt den vom Streusalz aufgetauten Schneematsch auf den Bürgersteig. Gegenüber vom Kloster werden im Schaufenster eines Blumenladens „fleischfressende Pflanzen“ angeboten. Für Ostdeutsche haben solche Offerten immer noch etwas Monströses, zumal für solche, wie sie beispielsweise hier im Klosterhof anstehen, um einen ziemlich fleischlosen Eintopf entgegenzunehmen. Momentan verharrt die sich um die Ecke windende Schlange weitgehend stumm vor den vollen Töpfen. Die sonntäglichen Wasserfrisuren der Männer haben sich längst in strähniger Nässe aufgelöst, es tropft von den Ohren in die Kragen, man wartet, mit den Füßen scharrend, auf den Beginn der Verteilung. Die gestrenge und dennoch beliebt gewesene Nonne Sr. Monika hat die Wollankstraße verlassen, ein Mönch leitet nun die Suppenküche. Er ist aber nirgends zu sehen. Ohne Gebet wird unter dem Dach des Kunststoffpavillons mit der Essensverteilung begonnen. Einige der Besucher sind ein wenig irritiert. Das Gebet war bisher der Startschuß.

Wir treffen Susanne und Rosi vor dem Teecontainer. Sie stehen dicht beieinander mit dampfenden Tassen und unterhalten sich. Susanne, Anfang 40, ist korpulent und von oben bis unten in Schwarz. Schwarze Pelzmütze, mit schwarzen, von innen her ausklappbaren Ohrenschützern, Brille mit schwarzem Rahmen, schwarze geräumige Wolljacke, Hose, Pullover und Schuhe, zusammen mit einem sorgfältig aufgelegtem Make up und exakt geschminkten Lippen machen sie hier zu einer auffälligen Erscheinung. In dieser Aufmachung würde man sie eher im Café Möhring vermuten, am späteren Nachmittag und zierlich das Kuchengäbelchen haltend, nicht aber mit Aluminiumlöffel und Napf in der Suppenküche.

Rosi ist Anfang 50, blond, hat ein großflächiges Gesicht mit breiten Wangenknochen, ist mittelgroß und schmal, aber weiblich proportioniert. Sie trägt die Pelzjacke, die sie vor einigen Tagen in der Kleiderkammer der Adventisten gefunden hat (und zwar in exakt ihrer Konfektionsgröße). Als Kopfbedeckung dient eine modische Wollmütze, die vorn eine Art Brosche hat und das Gesicht gliedert. Ihre Lippen sind hellrot geschminkt. Beide Frauen wirken teils damenhaft, teils aber auch wie verlassene Kinder. Ihr Mienenspiel ist noch nicht angepaßt, sie fremdeln noch deutlich. Ihre Blicke schweifen nicht offen umher, bleiben nicht länger auf den Gesichtern haften, wie es hier üblich ist, sondern sie streifen eher scheu, mißtrauisch und auch mit einem kleinen, hilflosen Lächeln verbunden über die Anwesenden hinweg. Mit ihren Taschen sehen sie aus, wie Wochenendurlauberinnen auf dem Bahnsteig.

Unser Auftauchen und das Aushändigen der Kopien erfreut die Damen sichtlich. Sie betrachten uns als eine Art Verstärkung. Als weibliche Verstärkung, denn es gibt hier nur wenig Frauen. Rosi zieht uns mit sich, zu ihrem Platz in der Schlange, den ihr ein weißhaariger Taubstummer freihält. Aber wir erklären, daß wir nichts essen und Susanne hat Bedenken: „Ich stand ja eigentlich weiter hinten in der Schlange. Ich bleibe lieber dort, wo ich eingereiht war, denn ich möchte keinen Ärger. Ich bin auf das hier angewiesen, einen Hinauswurf kann ich mir nicht leisten.“ Damit verschwindet sie ein paar Meter weiter nach hinten. Rosi berührt den Taubstummen dankend am Arm und macht ihm in ihre Handfläche gezeichnet eine Mitteilung, die er anscheinend sofort versteht, denn er nickt heftig. Zügig rückt nun die vier bis fünf Personen breite Schlange vor.

Drei junge Frauen verteilen Napf, Suppe und belegte Brote. Hier im Osten der Stadt ist man streng. Ohne Suppennapf bekommt niemand ein belegtes Brot, es gibt weder Apfel noch Kuchen. Darauf, daß alles seinen geordneten Gang geht, achtet eine bewährte Mannschaft aus lebenserfahrenen ehemaligen Strafgefangenen und anderen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Die Suppenküche des Klosters hier ist eine der härtesten in Berlin. Trotz eisiger Kälte stehen die Essenden auf dem Kopfsteinpflaster des Hofes, suchen sich irgend eine Ablagemöglichkeit und löffeln stehend und mit klammen Händen ihre Suppe. Im Raum neben der Spülküche ist nur Platz für wenige Esser, also bleibt man hier draußen. Bänke und Tische sind mit einer Schneeschicht bedeckt und nicht benutzbar. Rosi und Susanne haben ihre Schüsseln strategisch gut auf einem Holzregal abgestellt, genau zwischen Schweinefuttertonne und jenem Schuppen, aus dem heraus der Kuchen verteilt wird.

„Hierherzukommen“, sagt Susanne, „das bedeutet ja immer, eine gewisse Hemmschwelle zu überwinden. Man geht schließlich nicht leichten Herzens in eine Suppenküche, nicht? Ich bin zusätzlich noch schüchtern, ein ängstlicher Mensch. Schon in der Kindereinrichtung habe ich immer nur unter dem Tisch gesessen und mich versteckt, eine einzige nur von den Frauen durfte mich füttern, sonst habe ich geweint. Ich bin schwierig, und nun das!“ Sie atmet in kurzen, schnappenden Zügen. Das strukturiert ihren Sprechrhythmus und gibt ihm etwas gehetztes, leicht panisches, zudem blickt sie sich immer wieder verstohlen um und dämpft die Stimme. Rosi wirkt ein wenig gelöster, ist dafür aber von einer deutlichen Nervosität gezeichnet. „Wißt ihr“, sagt sie „wir beide haben manchmal schon geglaubt, verrückt zu werden über all diesem Wahnsinn. Ich habe sogar schon mal an Selbstmord gedacht – denn wenn ich mir das so vor Augen halte, daß wir eigentlich Pennerinnen sind, dann kann ich das kaum ertragen.“ Susanne winkt beschwichtigend ab: „Als richtige Pennerin fühle ich mich nicht gerade. Ich muß sagen, mir persönlich geht es, seit ich essen gehe, wesentlich besser als vorher. Ich muß mir keinen Kopf mehr machen, wie ich meinen täglichen Bedarf decke, und man ist ja auch nicht mehr so einsam, sitzt nicht mehr nur in der Wohnung herum und verschimmelt.“ Rosi widerspricht: „Dem kann ich überhaupt nicht zustimmen, für mich trifft das nur teilweise zu. Wir sind abgerutscht, da hilft nichts. Und das Schlimme ist, wir gewöhnen uns schon an den Zustand und wir loben alle möglichen Dinge, die wir früher niemals akzeptiert hätten. Wir müssen einfach aufpassen, sonst kommen wir nie mehr hier raus!“

Vor dem Schuppen ist gerade ein alkoholkranker Mann angetreten, zitternd, lang, dünn, hat Probleme mit den Beinen und gehört wahrscheinlich ins Krankenhaus. Er stellt, schwankend vor Schwäche und Trunkenheit, seinen Napf aufs Granitpflaster, verschüttet einen Teil der Suppe, gerät in vollkommene Verwirrung, denn oben soll er den Kuchen in Empfang nehmen. Es dauert aber endlos, bis er das Kreuz wieder hinaufgebogen hat. Ein danebenstehender Mann mit Glatze hebt den Napf auf vom Boden und hält ihn so lange, bis der Alkoholiker seinen Kuchen hat und alles wieder koordinieren kann. Rosi und Susanne kommen mit vollen Näpfen und belegten Broten zurück. Die Suppe gießen sie in Gefäße, die sie aus den Tiefen ihrer Taschen hervorholen. „Für den Abend“, sagt Rosi.

Susanne beißt in ihren Streuselkuchen, kaut hastig und sagt: „Wißt ihr, das sind für uns ja ganz neue Erfahrungen. So was kannten wir nicht, solche gigantischen sozialen Unterschiede. Gut, es gab natürlich auch bei uns Privilegierte, sicher, aber es hatte nicht einer alles und der andere nichts, die Unterschiede waren eigentlich unbedeutend, jedenfalls für mich. Bei uns im Neubaugebiet, da wohnte der Arbeiter neben dem Akademiker. Luxus, das war für alle eine Neubauwohnung.“ Rosi wirft feurig ein: „Und die Schrankwand ,Karat‘! Was glaubt ihr, was das für ein begehrtes Möbel war. Wenn man die endlich bekam, nach langer Wartezeit, das war ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Allein schon diese Maserung, hochpoliert, das sollte ein ganzes Leben lang halten. Heute stellen die Leute sie auf die Straße als Sperrmüll. Zu ihrem Wohngebiet sagen sie verächtlich ,Platte‘ und keiner weiß mehr, daß das ein Westausdruck ist.“

Susanne nickt und sagt: „Ich habe ja früher mal ganz anders gelebt. Ich war Arbeiterin in einer Zigarettenfabrik in Pankow, dann hatte ich mich qualifiziert und habe in einem Pflanzenforschungsinstitut gearbeitet. Es wurden dort schädlingsresistente Pflanzen gezüchtet, also normale Nutzpflanzen, Tomaten, Rüben, Kartoffeln, Mais. Ich kann heute noch eine Blattlaus auswendig zeichnen, so viele habe ich unter dem Mikroskop gesehen. Ich wollte noch ein spezielles Biologiestudium anhängen, hatte auch schon angefangen damit, da kam mir dann die Wende dazwischen. Die kam mir total in die Quere. Ich hatte Pläne, ich habe das, was ich gemacht habe, geliebt. 93 bin ich entlassen worden. Schluß, aus. Für den Westen war ich viel zu alt. Und ich habe mich so was von schlecht behandeln lassen müssen auf dem Arbeitsamt, das ist ein Kapitel für sich.“ Rosi hat die ganze Rede mit zustimmenden Jas untermalt und kann nun nicht länger nur zustimmen: „Und das gemeinste an der ganzen Sache ist ja, da sitzen unsere eigenen Leute drin, im Arbeitsamt. Die waren vorher schon in irgendwelchen Funktionen, stramme Kader zum Teil, und die haben sich sofort wieder vorn angestellt und sind da rein und haben dem neuen Herrn gedient. Also die sind mitleidslos, sie legen die Gesetze zu unseren Ungunsten aus, man kann monatelang warten auf alles, da ist eine Wand wie Beton. Sie behandeln uns wie Bettler, die man abspeist oder aus dem Haus treibt, das ist so was von demütigend, und wenn man aufbegehrt, dann ist es ganz aus, dann hat man einen persönlichen Feind. Ich bekomme ja momentan Arbeitslosengeld, muß aber immer hin aufs Amt.“

Susanne schnippt die Kuchenkrümel von ihrer Jacke und sagt: „Ich bin ja jetzt glücklicherweise in der Reha – hab 'ne ganz schlimme Wirbelsäule und kaputte Knie, bekomme Massagen und Packungen. Vorher wollten sie mich zwangsweise umschulen zur Altenpflegerin! Ich sagte, daß ich mit meiner Wirbelsäule keine kranken Leute hochheben kann, lieber mache ich irgendwas Sitzendes, mit Computer oder so, aber sie haben gesagt, Altenpflege sei zumutbar. Der Amtsarzt, von dem ich mich untersuchen lassen mußte, für das Gutachten, hat aber abgelehnt. Das war gut so, sonst hätten sie mir am Ende noch mein Geld gestrichen. Sie haben mir gesagt, daß ich auch Arbeiten annehmen muß, die weit unterhalb meiner Qualifikation liegen, wenn ich mich weigere, verliere ich meine Ansprüche. Jetzt momentan habe ich Ruhe, aber die vielen Wege, die ich gehen mußte, nur um mein mir zustehendes Geld zu erhalten, die kann sich kein Mensch vorstellen, der noch Arbeit hat und normale Kontakte.“

Rosi bringt zwei frisch gefüllte Tassen mit heißem Hagebuttentee und stößt mit Susanne an: „Auf unser Elend! Ich verbringe meine Tage mit Schlange stehen. Schlange stehen im Arbeitsamt und Schlange stehen in der Suppenküche. Abends gehe ich mit Sorgen ins Bett, morgens wache ich mit Sorgen auf. Der Kapitalismus bringt mich noch um!“ Ringsum entsteht Bewegung. Auf einem nahe stehenden Tisch werden blaue Säcke voller Brotlaibe gestellt und große Plastikwannen mit Schrippen. Es sind Spenden von Bäckereien und Firmen. Rosi und Susanne greifen nach anfänglicher Zurückhaltung beherzt zu. Sie werden, wie alle hier, von der Schnäppchengier übermannt. Die zehrende Unzufriedenheit und Verbitterung scheint mit zunehmender Prallheit der Taschen ein wenig zu weichen.

Aber das ist natürlich nicht von Dauer, denn ein Mensch alleine, kann unmöglich all diese Brötchen, Kastenweißbrote, Vollkornbrote, Äpfel und Stullen verschlingen, schon gar nicht, wenn morgen bereits – nein übermorgen, denn Montag ist Ruhetag im Kloster – wieder neue Brote und Kuchen verteilt werden.

Es entsteht also etwas vielleicht noch Unangenehmeres, ein Schuldgefühl darüber, Nahrungsmittel wegzuwerfen oder schlecht werden zu lassen. Wie man es dreht und wendet, es wird nichts besser durch einen partiellen Überfluß. Und zu übersehen ist ja auch nicht, daß der „Überfluß“ ein Abfallprodukt ist – eben so wie die Empfänger – ausgesondert aus dem Markt, unbrauchbar gewordener Rest. Und wie, um das alles zu kommentieren, ereignet sich eine seltsame Szene. Eine auf den ersten Blick normalsituiert wirkende ältere Frau, sportlich, in Anorak und Hose mit ledernem „City-Rucksack“ auf dem Rücken, tritt mit ihrem vollen Suppennapf zur Schweinefuttertonne, öffnet den Deckel und entleert den Napf. Daraufhin geht sie erneut zum Pavillon und läßt sich Suppe und belegte Brote, Kuchen, Äpfel und das ganze Programm aushändigen. Rosi und Susanne hat es die Sprache verschlagen, letztere fängt sich zuerst und stößt hervor: „Das ist doch unmöglich, so eine Handlungsweise, das ist unsozial. Wenigstens hätte sie das Essen vorher jemandem anbieten können. Bei solchen Gelegenheiten merke ich noch deutlicher, daß ich DDR- Bürgerin bin. Ich finde das einfach unmoralisch, nur um die guten Zulagen doppelt einzuheimsen, das ganze Essen wegzuschmeißen.“ Rosi beobachtet, wie die Frau ihren Rucksack vom Rücken gleiten läßt, um ihn mit Brot und Brötchen zu füllen und sagt: „Vielleicht hat sie's überhaupt nicht nötig?“ Und übersieht vollkommen, daß auch sie und Susanne diesen Verdacht auf sich ziehen, wie die gelegentlich taxierenden Blicke der Alteingesessenen zeigen.

Susanne hat Mühe, ihre Tasche zu schließen und ruft entschieden aus: „Nein, das ist kein Leben. Wir brauchen Arbeit, qualifizierte Arbeit, nicht solche Beschäftigungsprogramme für ein Jahr höchstens. So was kommt nur der Statistik zugute, uns nicht. Mir haben sie ja auch so was gegeben gehabt, so eine ABM-Maßnahme. Wir mußten Analysen machen vom Grenzverkehr, vom fließenden und vom ruhenden, die Anzahl der Autos registrieren, die pro Viertelstunde die Grenze überquerten, wie viele Ausländer – also ausländische Nummernschilder – darunter waren. Wozu das gut sein sollte, hat uns keiner erklärt. Manchmal hat man ja den Eindruck, sie schaffen da potemkinsche Dörfer der Arbeit.“ Wir lachen sehr, angelockt davon tritt der junge Mann mit der Glatze näher und reicht erst Susanne und dann uns die Hand. „Mit ihm zusammen“, erklärt Susanne „habe ich die Verkehrsanalyse gemacht, hier haben wir uns wiedergetroffen. Er hat seitdem auch nichts mehr bekommen.“

Der junge Mann lacht verlegen. Er trägt einen schwarzen Lederblouson, Jeans und Springerstiefel mit roten Bändern. Sein Atem riecht etwas nach Alkohol und Susanne sagt in strengem Tonfall: „Um diese Tageszeit sollte man aber noch nicht so nach Schnaps riechen!“ Er beugt sich vor, haucht sie an und singt: „Unsre Fahne flattert uns voran ...“ Die beiden Damen reagieren nicht. Ich schaue noch mal auf die Schnürsenkel, aber da scheint es keinen Verlaß mehr zu geben, ob man nun einen roten oder braunen Skin vor sich hat. Ich hielt ihn für einen Redskin, möchte ihn aber nicht fragen, wofür er sich hält. Er erzählt, daß er ständig in Fahrscheinkontrollen gerät: „Heute schon wieder, aber diesmal hatte ich meine Karte mit. Neulich mal, da hatte ich sie vergessen und prompt sind sie eingestiegen. Die sehen ja jetzt teilweise aus, wie Sozialhilfeempfänger, keine Chance, sie vorher zu erkennen.“ „Ja“, ruft Rosi, „man weiß jetzt gar nicht, steigt da so einer ein und sagt gleich seinen Bettelspruch runter ,... bin HIV-positiv und seit zwei Jahren obdachlos und bitte um eine Spende ...‘ Oder sagt der: ,Die Fahrausweise bitte!‘“ Susanne wirft ein: „Genauso ging's mir letztens, da kam so ein Kerl und verlangte meine Karte. Ich war ganz ruhig, griff in meine rechte Jackentasche, wo sie immer ist, da war sie aber nicht. In der anderen Tasche auch nicht. Und da ist es wie ein Blitz durch meinen ganzen Körper gefahren, es war ganz schlimm. Also entweder ich habe sie verloren, oder jemand hat sie mir gestohlen. Die Strafe konnte ich natürlich nicht zahlen. Jetzt ist das zum Gericht gegangen, glaube ich, denn ich kann ja nicht beweisen, daß ich Karte und Marke und alles in Ordnung hatte.“ Der Glatzköpfige zeigt einen Schwerbeschädigtenausweis, ich glaube, er hat irgendwas an den Beinen. „Ich hatte da mehr Glück“, sagt er, „ein paar Tage später bin ich in die BVG- Zentrale, hab meine Karte hergezeigt und der Fall ist erledigt gewesen.“

Ein alter Mann nähert sich zahnlos mummelnd der Schweinetonne und kippt seine Schüssel aus. „Kann nich beißen, det Kartoffelzeuch!“ brummt er ärgerlich und läßt den Deckel zuklappen. Der Glatzkopf sagt: „Mein Hund wäre auch ein Abnehmer. Der muß mal was Richtiges zu fressen kriegen. Unlängst hat er so gekotzt, da hatte ich ihm rohe Kartoffeln vorgesetzt – na ja, gerieben war'n sie und kurz angebraten, aber noch zu roh offenbar – die hat er nicht vertragen. Ich hatte aber selbst nichts anderes da.“ Susanne und Rosi machen empörte Mienen. Rosi bemerkt: „Also, wer von Hunden nichts versteht, der sollte die Finger weglassen. Ein Hund ist ein Raubtier, der hat ein Raubtiergebiß und einen Raubtiermagen, der braucht Fleisch und höchstens als Beilage mal Gemüse oder Haferflocken.“ „Der kriegt ja alles“, verteidigt sich der Glatzköpfige, „nur manchmal, Monatsende, da wird's knapp.“ Er geht zum Schuppen, wo die letzten noch übriggebliebenen Kuchen ausgegeben werden, dazu Tüten mit Baumkuchenspitzen und Puddings in Plastikbechern. Rosi eilt auch hin, nur Susanne verzichtet: „Ich will keinen Bissen mehr zu mir nehmen heute. Ich muß abnehmen, bei mir schlägt sich jedes Gramm sofort nieder. Früher habe ich gerne abends – jeden Abend eigentlich – einen trockenen Weißwein getrunken, oft eine ganze Flasche, so im Verlaufe des Abends, aber es geht nicht mehr“, sie zeigt auf ihre Rundungen, „jetzt habe ich einen guten französischen Rotwein stehen und der wird kaum weniger. Jeden Abend nehm ich so sein Schlückchen“, sie zeigt Fingerhutgröße an, „das ist alles. Ich trinke immer so um sieben, damit noch ausreichend Zeit verstreicht, bevor ich meine Tabletten einnehme, denn das verträgt sich ja nicht miteinander. So, ich muß jetzt leider gehen, habe noch eine Verabredung.“ Sie drückt uns fest die Hände und sagt etwas förmlich: „Und vielen Dank auch für das Schriftstück, ich lichte es für uns beide ab und gebe es dann wieder zurück am nächsten Donnerstag.“ Winkend geht sie davon. Auch der junge Mann verabschiedet sich. Wir begleiten Rosi in die Suppenküche St. Marien, dort will sie in Ruhe im Warmen sitzen und Kaffee trinken.

Die St. Marienkirche liegt am Alexanderplatz, direkt an der Karl-Liebknecht-Straße, genau zwischen Marx-Engels-Forum und Fernsehturm. Sie ist eine der ältesten Kirchen Berlins. Inmitten einer Neubauwüste ruht das Gebäude aus grob behauenem Sandstein etwas vertieft auf dem Platz, wie in einer Wanne. Man muß ein paar Stufen hinuntersteigen, um zum Hauptportal zu kommen oder zum Seitenportal, wo der Eingang zur Suppenküche ist. Wer durchs Hauptportal geht, kommt zuerst in die Turmhalle, in der ein spätgotischer „Totentanz“ bereits den Weg dorthin lohnt. Das dahinterliegende Kirchenschiff ist hoch, hell, riecht noch nach Holz und Weihrauch, besitzt einige Sehenswürdigkeiten und eine sehr gute Akustik, nebst dazugehöriger Orgel, auf der Bach gespielt haben soll, als er 1747 Friedrich II. besuchte. Hier finden Konzerte statt, Ausstellungen. Und alle vierzehn Tage, Sonntag von 14 bis 16 Uhr, hat die Suppenküche geöffnet.

Diese Suppenküche ist etwas Besonderes. Fellini hätte sich die Szenerie nicht schöner ausdenken können. Die Ausspeisung der Armen findet in der Seitenkapelle statt. Sie sitzen an langen, mit Papier bedeckten Tischen, sind über ihre Teller gebeugt oder ins Gespräch vertieft. Als Wandschmuck umgibt die Essenden eine selten schöne Sammlung gotischer Sakralkunst. An der Stirnseite blickt der Eintretende auf einen großen Marienflügelaltar. Auf der rechten Wandseite hängt zunächst ein kleiner Marienaltar, und im hinteren Teil prangt ein großes Triptychon mit den Stationen des Kreuzweges. Es ist unterteilt in viele kleine Szenen, auf denen jeweils eine wunderbare, ins Blaugrün sich verlierende Landschaftsszene hinter der jeweiligen Darstellung liegt. Mein Lieblingsplatz am Kopfende des mittleren hinteren Tisches ist frei. Der halbe Tisch ist frei. Wir setzen uns. Von hier aus sind die Malereien des Triptychons am besten zu sehen. Am liebsten betrachte ich die Folterszene, rechts oben, auf der ein halbnackter Christus sich auf menschunmögliche Weise windet unter den Attacken der Folterknechte – und alle Beteiligten haben vollkommen unschuldige Gesichter. Der ehemals sozialistisch erzogene Bürger, der auch hier weitgehend den Hauptanteil der Suppenküchenbenutzer stellt, hat zur Kirche und zum Wandschmuck ein desinteressiertes Verhältnis. Man sitzt warm in St. Marien, man ißt gut, und draußen steht das Arztmobil, in dem auch derjenige Behandlung findet, der keine Krankenversicherung hat. Offensichtlich erwartet man hier keinerlei Unbotmäßigkeit der verelendeten Massen. Ein Teller heißer Suppe, im Affekt gegen die Wand geworfen, würde schreckliche Folgen haben.

Rosi wirkt entspannt und freut sich über den ausgezeichneten Waldorfsalat, der in großen Schüsseln auf den Tischen steht. Man bekommt hier Essen von der „Berliner Tafel“, einer Aktion zu Gunsten Bedürftiger, bei der die kleinen und großen Überbleibsel von den Tafeln der Reichen, von Empfängen, Kalten Büfetts oder aus anderen Quellen gesammelt und auf diverse Einrichtungen verteilt werden. Meistens sind es nur die kleinen Überbleibsel. Denn, wie all diejenigen wissen, die schon einmal dabei waren, wenn Besserverdienende ein Kaltes Büfett stürmen, bleiben da höchstens die weniger begehrten Häppchen zurück, wie eben ein Selleriesalat und die Garnierung. Ein Mann in Schwarz erscheint mit Kaffee und Tee, schenkt das Gewünschte ein, bringt einen Tomatensalat und eine Platte mit belegten Broten. Der Mann ist einer der ehrenamtlichen Helfer und sieht aus, wie der Domprobst persönlich. Bei seinen Rundgängen wird er begleitet von einem spitzartigen schwarzen Hund mit glänzendem Fell, der diensteifrig blickend dem Herrn stets im gleichen Abstand auf den Fersen folgt. Ein weiterer schwarz gekleideter, überschlanker Herr, mit süßlichem Lächeln, geht ebenfalls herum, nimmt kurz da und dort Platz um ein paar Worte zu wechseln und begrüßt, teils schüchtern, teils als Hausherr, die neu ankommenden Gäste. Er ist der Pfarrer. Einige ehrenamtlich helfende Frauen stehen ihm zur Seite. Aber die Besucher bleiben weitgehend unter sich und müssen weder Gebete verrichten noch Interesse heucheln. Rosi hat ihre Jacke ausgezogen und trinkt vom Kaffee, der stark ist und heiß. Sie beugt sich zu uns und sagt nach kurzem Umherblicken: „Die Susanne wollte ja eigentlich mitkommen, dann hat sie sich aber verabredet ... Na, die ist schon schlimm dran, sie ist ja psychisch unheimlich fertig, fertig mit den Nerven. Obwohl sie ja wenigstens noch ihre kleine Wohnung hat für sich alleine. Ich würde sonstwas dafür geben, wenn ich eine Wohnung hätte. Ich bin nämlich im Prinzip obdachlos. Ich habe zwar eine vorübergehende Bleibe, wo ich mich auch anmelden konnte, eigentlich ist es aber nur ein Schlafplatz bei einer alten Frau. Die ist so zirka dreiundsechzig Jahre alt und etwas schwierig. Ich kenne sie von früher. Sie hat mich aufgenommen, als ich in dieser Notsituation kam. Das war wirklich nett, aber es ist kein Zustand auf die Dauer. Ich muß zweihundert Mark bezahlen, habe aber nicht mal ein eigenes Zimmer und auch alles andere ist in der Schwebe, mit der Küche, mit dem Bad. Ich lebe zwischen Baum und Borke, aber das Plätzchen ist nicht mal meins. Und die Bekannte, wie gesagt, ist schwierig. Sie hat sich wohl mehr versprochen von mir, mehr Unterhaltung, einen Sinn in ihrem Leben, was weiß ich. Aber den habe ich ja nicht mal für mein eigenes Leben momentan. Jedenfalls macht sie ein langes Gesicht, wenn ich spät nach Hause komme, will wissen, wo ich war und zunehmend verlangt sie nach Betreuung, nach gemeinsamen Spaziergängen. Das setzt mich natürlich unter Druck. Sie kann mich jeden Tag vor die Tür setzen, wenn sie das will, ich bin nicht mal eine Untermieterin in dem Sinne. Ich beziehe ja jetzt regelmäßig mein Arbeitslosengeld, aber wie man an eine Wohnung kommt ... also ehrlich gesagt, das mit dem freien Wohnungsmarkt, das macht mir alles etwas Panik. Man hört ja immer solche Dinge, daß die Vermieter sich die Lohnbescheinigungen zeigen lassen und niemanden wollen, der arbeitslos ist, oder daß die Vormieter Unsummen an Abstandszahlungen verlangen, für einen Teppichboden oder sonstwas, ich blicke da nicht durch. Aber über kurz oder lang muß ich in den sauren Apfel beißen und auf Wohnungssuche gehen.

Ella, eine Frau mit grauen Haaren und gutmütigem Gesichtsausdruck, sitzt am Nebentisch und sagt: „Entschuldigt, ich hab das eben mitgehört. Also über das Thema Wohnung, da könnte ich Bände erzählen. Jetzt habe ich ja endlich eine richtige, aber vorher, ich hab's ja glaube ich schon mal erwähnt, da wohnte ich in einer sogenannten Souterrainwohnung im Haus bei einem Ehepaar. Also zuerst hab ich ja gar nichts bemerkt, ich dachte, das ist normal, daß die Wohnung so teuer ist und eines Tages habe ich festgestellt, daß sie, wenn ich weg bin, in meiner Wohnung rumgehen und stöbern und alles. Ich habe mich natürlich beschwert, aber sie haben es abgestritten. Dann habe ich mir ein Zeichen gemacht und jedesmal lag was anders da als vorher. Als ich dann genug hatte und gekündigt habe, da wollten sie mit einem Mal eine Riesensumme für angebliche Schönheitsreparaturen, die ich als Mieterin zu tragen hätte. Aber ich hab nicht mal ein halbes Jahr drin gewohnt, und vorher war da auch nicht viel gemacht worden. Ich mußte klagen gegen die Leute, denn woher sollte ich denn das Geld nehmen. Es kam dann nur zu einem Vergleich, und ich hab mich nicht mehr getraut weiterzumachen. Also das war eine Katastrophe, das alles. Und nur, weil sie es mit uns unerfahrenen Ossis ja machen können. Aber ich bin sehr zufrieden, das war ein Glücksfall, ein guter Tip. Allerdings muß ich aufpassen, daß ich sie nicht gleich wieder verliere. Wegen den Igeln. Dreizehn sind es momentan, und ich habe den Eindruck, die riechen ganz schön kräftig. Man selbst riecht das ja nicht mehr nach einer Weile. Aber ich habe jetzt in alle Kistchen frische Holzwolle reingetan – die liegt unten auf der Baustelle massenhaft rum, so daß der Geruch erst mal etwas nachgelassen hat. Und jeden Abend rauche ich drei Zigaretten draußen, obwohl ich keine Raucherin bin, aber ich habe festgestellt, das vertreibt am besten Gerüche. Das Problem ist jetzt nur noch, daß die paar, die nicht im Winterschlaf sind, nachts immer rumrennen und ziemlichen Krach machen. Man soll das nicht glauben, so klein sie sind, die schmatzen und zischen und husten und werfen Sachen um, das klingt, als wäre ein Wildschwein unterwegs. Na ja, es ist nicht einfach. So, für uns wird's jetzt Zeit.“ Sie greift nach der Leine, zieht und unter ihrem Stuhl erhebt sich ein wuscheliger Hund, der die ganze Zeit über vor sich hin döste. Wir brechen gemeinsam auf, werden aber am Ausgang aufgehalten von einer alten Frau, deren Zähne – und zwar jeder einzelne – von einer Art Metallrahmen eingefaßt sind. Sie will an Ella eine Hundeleine für 10 Mark verkaufen und geht vergeblich auf 5 Mark runter mit ihrem Angebot. Sie sagt, sie brauche diese Leine nicht mehr, denn der vorige Hund sei tot und dieser – sie zieht einen Chow-Chow-Welpen unter dem Tisch hervor – sei zu klein für diese Leine. Stolz berichtet sie, der Hund sei reinrassig, fünf Monate alt und habe 1.700 Mark gekostet. „Der ist so was von intelligent, der Hund“, sagt die Frau stolz, „mit dem muß ich nachts nicht runter, nein, der bekommt eine Windelhose umgemacht. Er kommt abends schon von alleine mit der Pampers im Maul an. So isser!“ Der Chow-Chow blinzelt treuherzig. Draußen herrscht dichtes Schneetreiben.