Weinstube Schultze hilft da wenig

■ Cees Noteboom liest aus „Allerseelen“, einem Roman über einen melancholischen Dokumentarfilmer Berliner Geschichte

Berlin – das ist nicht allein Stadt, sondern längst steingewordene Metapher für Aufbruch und Wandel. Die Rede von der Berliner Republik markiert den historischen Umschwung ins neue Millenium. Allerdings: Wer den Enthusiasmus nicht teilt, dem droht, als Spielverderber aus der Gemeinschaft der Optimisten ausgeschlossen zu werden. Der Blick nach vorn scheint den Blick zurück auszuschließen.

Dokumentarfilmer Arthur Daane, Protagonist in Cees Nootebooms neuem Roman Allerseelen, läßt sich von der fiebrigen Atmosphäre nicht anstecken. Auf leisen „Sohlen der Erinnerung“ durchstreift er die Straßen Berlins, sammelt Bilder nach dem Zufallsprinzip. Mit filmischen Mitteln begehrt er gegen das „spurlose Verschwinden der Erinnerung“ auf. Wohl auch deshalb besucht er immer wieder geschichtsträchtige Orte wie den Potsdamer Platz oder das Brandenburger Tor.

Auf seinen Streifzügen macht Arthur Daane einige Bekanntschaften: Mit der alten Frau an der Bushaltestelle, die sich dem Holländer gegenüber schuldig fühlt – „Wir haben Ihnen großes Unrecht angetan“– oder mit der Polizistin, die ihn am Filmen hindern will, dann aber einen Verkehrsunfall verursacht. Diese ironisch erzählten Anekdoten bilden jedoch die Ausnahme. Zu sehr überschattet die Erinnerung an Ehefrau Roelfje und Sohn Thomas, die beide bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen sind, die fröhliche Gegenwart. Die Auslöschung der Familie als extreme Kontingenzerfahrung erweist sich für Daane als unüberwindliche Hürde bei dem Versuch, aus dem Kessel seiner Melancholie auszubrechen.

Auch die regelmäßigen Symposien mit dem Philosophen Arno Tieck, dem Bildhauer Victor Leven und der Physikerin Zenobia Stein in der Weinstube Schultze helfen da wenig. Erst als sich mit der Geschichtsstudentin Elik Oranje eine gefühlvolle, wenn auch komplizierte Liebesgeschichte entspinnt, verliert das übermächtige Gefühl der Melancholie an Bedeutung. Zumindest vorübergehend.

Allerseelen ist ein manchmal leichtfüßig, oft tiefsinnig, immer sehr persönlich verfaßter Roman Cees Nootebooms. Seine unter anderem aus den Berliner Notizen bekannte Perspektive des „unbeteiligten Beteiligtseins“, wie er es selbst einmal nannte, bewährt sich gerade vor Berliner Kulisse. Der lakonische Schlußsatz „Und wir? Ach wir ...“ klingt zwar zunächst resignierend, verweist aber wohl eher auf die besondere Gabe, sich selbst nicht allzu wichtig zu nehmen. Zu dieser Ansicht kommt jedenfalls Arthur Daane.

Joachim Dicks

Cees Nooteboom: „Allerseelen“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1999, 438 Seiten, 48 Mark

Lesung: heute, 19.30 Uhr, Universität, Flügelbau West, Edmund-Siemers-Allee