Kleist oder nicht Kleist

Ein lichter Block: Andreas Kriegenburgs vierstündige „Penthesilea“ im Münchner Residenztheater  ■ Von Sabine Leucht

Eine Kleist-Welt ist es nicht, die da naturholzsanft zur rechten Wand hin ansteigt und die Bühne weit hinten erst begrenzt. Bei Kleist, da herrscht das Schroffe, da herrschen Schlacht und Düsternis. In seiner „Penthesilea“ ist es die Schroffheit des sozialen Regelwerks, die Schlachten unvermeidlich macht und weitertreibt, als Schlachten gehen müssen. Düster, das. Doch auf Robert Ebelings Bühne strahlt der Himmel heller als der hellste Tag. Oder? Ist nicht den Segeln, die im kampfbereiten Winkel aufeinander zielen, eine leise Drohung eingeboren? Groß sehen sie aus und mächtig und die Menschen unter ihnen klein und dunkel wie die Worte, die sie später sprechen werden. Doch vorerst: Stille. Einer salbt seine Wunden, bis er so weiß ist wie das Bühnendach. Das braucht so seine Zeit. Derweil naht Odysseus, kriegsblöde und noch im Kampfeskrampf, und würgt einen Klumpen Blut hervor. Ein Dritter hält einen Hund im Arm. Der Hund ist schwarz, hat einen offenen Bauch – und mit und nach ihm kommt der Tod ins Spiel.

Andreas Kriegenburgs „Penthesilea“-Variation hebt im Münchner Residenztheater eher langsam an. Die Griechen haben Troja vor der Lanze und die Amazonen im Nacken, deren Gesetz den Mann nur unterworfen oder tot erlaubt – und doch die Liebe nicht besiegen kann. Es ist die Königin des Amazonenheers, die haben will, was sie nicht haben darf – Achill – und drum „noch einmal“ und „noch einmal“ weiterkämpft. Als wüßten die, wie bös das enden wird, macht das die Griechen schlapp. Alle, bis auf den jungen Boten Diomedes. Doch der hat sich den Hundedarm zum Haar erkoren und ist damit fast Frau: ein explosives Ausnahmegeschöpf.

So blutet auch das Amazonenlager und ist müde, doch herrscht die Müdigkeit hier nicht allein: Da sitzt ein zartes Tier in einer Höhlung, die wie ein halb gekipptes Boot sich aus dem Boden schiebt. Natali Seeligs Penthesilea zuckt auf die allerseltsamste Art, als ob sie sich von innen gegen ihren Körper stemmte. Schwächer als ihre Gefühle, aber stärker als die der anderen, umgarnt und kost sie ihre Mädchen. Bis ihr der Kuß zum Biß gerät und jedes sanfte Wort zur Drohung: „Willst du mir folgen, Prothoe?“ – „In den Orkus dir.“ Das gackert sie, die zweite Frau im Staat, da ihr die Treue und die böse Ahnung keinen andren Ton erlauben.

Natali Seeligs Königin und Judith Hofmanns Fürstin lassen die Männer allesamt wie Fußvolk aussehen. Selbst Roland Koch – Kriegenburgs furioser Stockmann im Hannoveraner „Volksfeind“ – scheint aufs bloße Dasein festgelegt: Sein Achill tut alles, was er tut, mit schleppender Entschlossenheit. Keine Frage also, daß die Regie die Frauen liebt. Doch hat Kleist selber seinen herrlich spröden Text um die inneren Tumulte seiner Titelfigur gruppiert. Die anderen, sie sind nur Mittel, Anlaß, Botschaftsüberbringer. Da nimmt der Regisseur den Text so brav beim Wort, wie es ein Kriegenburg nur kann: Das Trauerspiel mit seiner endlosen Reihe von Botenberichten ist ihm nicht primär Spielfeld für traumverloren-lustvolle Schauspielerexerzitien, sondern auch Aufforderung zur ernsten Text- und Sprecharbeit. Manchmal geht beides wunderbar zusammen, mal steht das eine fremd vorm andern da. Mal auch findet jedes den ihm gemäßen Ort.

Gleich nach der Pause – eine Szene höchster formaler Stringenz: Penthesilea rührt die blecherne Kriegstrommel, wonach sie flitzebogengleich erstarrt und den Mund aufreckt ins Nirgendwo: Zum Kuß? Zum Biß? Kurz darauf – das Gegenstück: Wieder war das Reitervolk geschlagen, und endlich findet der Griechenheld die Liebe, da macht Kriegenburg aus der Vorspiegelung falscher Tatsachen ein Vorspielen echter Träume: Penthesilea, die sich als Siegerin glaubt, wird zum glücklichen Kind, patscht dem Liebsten ins Gesicht, und beide basteln aus seinem kampfbefleckten Jackett jauchzende Gebär- und allzu kurze Familienträume. So viel Kriegenburg im Kleist gibt es den ganzen Abend nicht.

Von solchem Fall in postnatale Glückseligkeit kann sich Kentau- renstolz niemals erholen. (Es fehlte nur das Brabbeln. Oder war es da?) Die Raserei muß her, die Rache. Gleich, was der Mann noch sagt, er wird zerfleischt. Am Ende dann schenkt sich die Mörderin den Tod: So ruhig wie nie, ganz klar und zahm, streckt sie allein ihr mächtiges Gefühl dahin.

Ein fast erhabener Abgang für die „Schauspielerin des Jahres“ 1998, die hier ihre letzte große Rolle am Residenztheater spielt. Sie wird ihrem Lieblingsregisseur an die Wiener Burg folgen. Judith Hofmann und Roland Koch, der wie Kriegenburg selbst in Hannover engagiert ist, ziehen mit. München bleibt vorerst noch dieser gewaltige „Penthesilea“-Block, den die Regie scheinbar so wenig zu verkleinern suchte: Der Abend dauert fast vier Stunden und ächzt ein wenig unter der Wucht der Kleistschen Verse. Er bleibt ein Block. Doch der beginnt zu leuchten, wenn sich die Bühne zu immer neuen Metamorphosen dreht. Und die hypnotisch lauernde Musik (Laurent Simonetti) webt um die düstren Stunden einen weichen Sehnsuchtsflor.