Der saubere Osten

Das multikulturelle Osteuropa fand sein Ende mit den „ethnischen Säuberungen“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Was die Nazis begonnen hatten, machten die Verträge der Alliierten komplett: Sie erzwangen Völkerwanderungen quer durch Europa. Wer nicht auf der Flucht war, wwar urde umgesiedelt. Hintergründe über geschürte Konflikte  ■ von Philipp Ther

Als der Flüchtlingsbeauftragte der polnischen Regierung im März 1945 in die südpolnische Kleinstadt Przemysl reiste, war er über die Zustände entsetzt. Zehntausende von Flüchtlingen irrten in der vollkommen überfüllten Stadt umher, froren und hungerten. In zwei Auffanglagern in der Umgegend war bereits Typhus ausgebrochen. Der Flüchtlingsbeauftragte registrierte eine „ernsthafte Zahl an Erkrankungen, ja sogar von Todesfällen“. Dagegen unternehmen konnte er kaum etwas, denn täglich kamen in diesem Monat fast neuntausend Flüchtlinge aus dem Osten an.

Etwa achthundert Kilometer weiter westlich, in Frankfurt an der Oder, spielten sich im Frühjahr 1945 ähnliche Szenen ab. Erschöpfte Flüchtlinge lagen auf den Straßen. Nach Augenzeugenberichten stürzten sich Dutzende von Menschen aus Verzweiflung in die Oder. Die Brandenburger Flüchtlingsverwaltung schrieb in dem damals üblichen Stakkatoton: „Städte wie Frankfurt (Oder) und Küstrin – selbst zum überwiegenden Teil zerstört, ohne jegliche Lebensmittelvorräte, ohne Wasserversorgung, ohne ärztliche Hilfe, ohne Medikamente, ohne Unterkunft – wurden zum Schauplatz einer grauenvollen Tragödie.“

Die humanitäre Katastrophe hatte eine schlichte Ursache: Przemysl und Frankfurt (Oder) waren über Nacht zu Grenzstädten geworden. So hatten es die Alliierten auf der Konferenz von Jalta festgelegt, als sie die Ostgrenze Polens und Deutschlands per Unterschrift zwei- bis dreihundert Kilometer nach Westen verschoben.

Die Alliierten hatten jedoch nicht nur neue Grenzen, sondern auch ein neues Ordnungsprinzip beschlossen. Europa sollte soweit wie möglich nur noch aus homogenen Nationalstaaten bestehen. Etwa zwanzig Millionen Deutsche, Polen, Ukrainer, Ungarn und Angehörige anderer Nationen lebten somit auf der falschen Seite der neuen Grenzen. Mit ihnen sollte, wie Winston Churchill in einer Unterhausrede im Dezember 1944 formulierte, „reiner Tisch gemacht werden“. Optimistisch verkündete der britische Premier: „Große Transfers sind unter modernen Bedingungen viel besser möglich als je zuvor.“ Stalin, der Meister des social engineering, kannte ohnehin keine Skrupel.

Die ersten Opfer dieser Politik der Alliierten waren Polen. Roosevelt, Churchill und Stalin stellten 1944 die formell verbündete Londoner Exilregierung vor vollendete Tatsachen. Stalin durfte den östlichen Teil Polens, den Deutschland der Sowjetunion im Hitler-Stalin-Pakt 1939 zugeschanzt hatte, weitgehend behalten. Sogar Lemberg, das für Polen eine ähnliche kulturelle Bedeutung besaß wie Wien für den deutschsprachigen Raum, ging an die Sowjetunion verloren. Die Deutschen in Niederschlesien und in Pommern ahnten nicht, was die von Hitler initiierte Westexpansion der Sowjetunion für sie bedeuten würde. Die polnische Exilregierung erhob zunächst nur Anspruch auf Ostpreußen und Oberschlesien. Als sich aber abzeichnete, daß Lemberg und auch Wilna endgültig verloren waren, forderte Polen Breslau und Stettin als Ersatz.

Im September 1944 zwang Stalin die moskautreue Linksregierung von Lublin dazu, ein Abkommen zur „freiwilligen Evakuierung“ der polnischen Bevölkerung aus dem Osten zu unterzeichnen. Die Freiwilligkeit beschränkte sich auf eine Unterschrift für die Ausreise, denn die Ostpolen hatten panische Angst vor den neuen Machthabern. 1940 und 1941 hatte Stalin aus der sowjetisch besetzten Osthälfte Polens 330.000 Menschen nach Sibirien und Zentralasien deportieren lassen. Zehntausende starben dort in Gefängnissen und Lagern.

Eine halbe Million Polen waren zudem auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg mit den Ukrainern, der bald nach dem Einmarsch der Deutschen in Ostpolen ausbrach. Mitverantwortlich dafür waren die Nazis, die besetzte Gebiete derart ausbeuteten und ethnische Gruppen gegeneinander ausspielten, daß 1942/43 an mehreren Stellen in Osteuropa bestehende Nationalitätenkonflikte eskalierten.

1945 fürchteten die Ostpolen neben den Ukrainern außerdem eine Wiederholung der Stalinschen Deportationen: „Wenn Gott gütig ist, reisen wir nach Westen, wenn nicht, dann geht es nach Sibirien“, schrieb Ende 1944 eine Polin im heutigen Weißrußland in ihr Tagebuch.

Obwohl es Fröste von bis zu dreißig Grad minus gab, verfrachteten die sowjetischen Behörden noch 1944 117.000 Polen in die Gegend von Przemysl. Nachdem die Rote Armee Anfang 1945 die deutschen Ostgebiete erobert hatte, fuhren die Züge weiter nach Westen. Doch die Bevölkerungsverschiebungen verliefen nicht, wie Churchill es sich erhofft hatte, unter „modernen Bedingungen“. In Polen war über die Hälfte des Schienennetzes außer Betrieb. Reisen, die heute einen halben Tag in Anspruch nehmen, dauerten wochenlang. Zudem gab es kaum Autos. Die meisten polnischen Vertriebenen wurden daher in Kohlewaggons befördert. Der Wojewode von Bromberg (Bydgoszcz) klagte im Sommer 1945 in einem Schreiben an die Regierung: „Die lange Reise in offenen Waggons, die manchmal 7 bis 11 Wochen dauert, bei unzureichender Ernährung, erschöpft den Organismus der Reisenden, speziell der Kinder.“ In Oberschlesien kamen etwa ein Viertel der polnischen Vertriebenen in einem Zustand an, der eine sofortige ärztliche Behandlung erforderte.

Die Ankunft der polnischen Vertriebenen verschlimmerte das ohnehin vorhandene Chaos in den deutschen Ostgebieten. In Oppeln (Opole) und Cosel (Kozle) in Oberschlesien kampierten im Juli 1945 43.000 Ostpolen unter freiem Himmel. Man hatte sie dort aus den Zügen geworfen, weil in Oppeln die frischverlegten Gleise mit der breiteren russischen Spurweite endeten.

Oft wußten die polnischen Vertriebenen gar nicht, wo sie angekommen waren. Die deutschen Aufschriften auf den Bahnhöfen, Straßenschildern und in den Schaufenstern zeigten es ihnen. Viele wehrten sich gegen die Ansiedlung in den „wiedergewonnenen Gebieten“, obwohl die Regierung behauptete, es handle sich dabei um „urpolnische“ Gebiete. Sie befürchteten, bei nächster Gelegenheit nochmals ausgesiedelt zu werden – dann von den Deutschen. Bis zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze 1990 hielt sich diese Angst.

Zusätzlich zu den 2,1 Millionen polnischen Vertriebenen kamen bis 1948 insgesamt drei Millionen Zentralpolen in Trecks in die ehemaligen deutschen Ostgebiete. Die Regierung versprach ihnen in einer Werbebroschüre: „Geh dorthin! Ehe Du Dich umschaust/ biste besser und reich/ denn der Bauer im Westen/ ist dem Gouverneur gleich!“ Das Versprechen eines schnellen Reichtums nahmen viele Zuwanderer wörtlich. Sie plünderten Bauernhöfe, Fabriken und Wohnungen aus und verschoben die erbeuteten Sachen nach Osten. Das bevorzugte Opfer der Banden waren die zumeist wehrlosen Deutschen, doch überfielen sie auch häufig Züge mit polnischen Vertriebenen.

Die ehemaligen deutschen Ostgebiete bekamen im Frühjahr 1945 den Spitznamen „Wilder Westen“ – und das zu Recht. Im Sommer kontrollierten bewaffnete Banden zeitweise ganze Landkreise und die Zugangsstraßen nach Breslau. Respekt hatten die Plünderer allenfalls vor den häufig trunkenen Soldaten der Roten Armee, nicht aber vor der schwachen polnischen Verwaltung. Den Banden gelang es außerdem, die schlecht bezahlte Polizei und die mächtige polnische Staatssicherheit zu unterwandern. Geschwächt wurden sie 1945 allein durch Bandenkriege, denen etwa in Oberschlesien weit mehr polnische Sicherheitskräfte zum Opfer fielen als dem Kampf gegen Werwolfgruppen oder andere versprengte Nazis. Als im Kampf gegen den Hitlerismus gefallene Helden ehrte man später die Opfer der Mafia.

Soweit sich die Kriminalität gegen Deutsche richtete, kam sie der polnischen Regierung nicht ungelegen. Der Generalsekretär der polnischen Kommunisten, Wladyslaw Gomulka, gab im Mai 1945 als Losung aus: „Die Deutschen sind hinauszuwerfen. Denen, die dort sind, sind solche Bedingungen zu schaffen, daß sie nicht dableiben wollen.“ Der Görlitzer Pfarrer Frank Scholz schrieb damals in sein Tagebuch: „Der Deutsche hat aufgehört, ein Rechtssubjekt zu sein. Seine Ehre, sein Leib und sein Leben stehen einem übermütigen Sieger gnadenlos zur Verfügung.“ Mit dem Leib meinte Scholz vor allem Frauen, die reihenweise vergewaltigt wurden.

Doch sollte man Rachemotive nicht überbewerten. Die Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten wurde für die Deutschen vor allem deshalb zum Trauma, weil im „Wilden Westen“ Polens Willkür und Anarchie herrschten. Daran änderte auch das Potsdamer Abkommen lange Zeit nichts, das einen „ordnungsgemäßen und humanen Transfer“ vorsah. Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs waren knapp. Die Deutschen als unterste soziale Gruppe bekamen in Polen und in der Tschechoslowakei eben nicht die sprichtwörtliche letzte Scheibe Brot oder das letzte Stück Kohle – keine Überraschung nach sechs Jahren Besatzungsterror.

Zur allgemeinen Diskriminierung von Deutschen kam gezielte Ausbeutung. Eine geheime Instruktion des in Polen für die Vertreibung der Deutschen zuständigen Repatriierungsamtes gab vor, daß Deutsche bis zu vierzehn Stunden am Tag arbeiten sollten. Ausdrücklich hieß es, daß sie kein Recht auf Pausen hätten. Dementsprechend kamen die Vertriebenen in Deutschland an: krank und unterernährt. Die Zustände waren so schlimm, daß einzelne Polen schon wieder Mitleid mit den Deutschen bekamen, in deren Häusern und Wohnungen sie lebten. Vor allem polnische Vertriebene, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren war, wie es den im Osten verbliebenen Deutschen bevorstand, zeigten Mitgefühl.

Von den ostmitteleuropäischen Ländern sträubte sich nur Ungarn gegen die Vertreibung aller Deutschen, da es fürchtete, daß dann die in der Südslowakei lebende ungarische Minderheit ebenfalls ausgewiesen würde. Tatsächlich mußten bis 1948 rund 89.000 Ungarn die Slowakei verlassen. Hohe sowjetische Stellen wiesen die ungarische Regierung mehrfach an nachzuholen, was Tschechen und Polen vorexerzierten.

Neben Deutschen, Polen und Ungarn traf die „ethnische Entmischung“ vor allem Ukrainer. Gemäß einem geheimen Bericht an das Innenministerium der Sowjetunion wurden bis Ende 1946 rund 482.000 von ihnen aus Polen vertrieben. 1947 lebten noch an die zweihunderttausend Ukrainer im Südosten Polens. Im April 1947 arbeitete die polnische Regierung einen Plan zur „endgültigen Lösung“ der ukrainischen Frage aus, wonach 140.000 Menschen in die „wiedergewonnenen Gebiete“ deportiert wurden. Damit war die letzte kompakte Minderheit in Ostmitteleuropa beseitigt.

Polen, vor 1939 noch ein Land mit einem Drittel Minderheitenbevölkerung, war 1948 zu 95 Prozent ein homogener Nationalstaat. Ähnlich sah es in Ungarn und der Tschechoslowakei aus. Die Homogenisierung Ostmitteleuropas, die Hitler 1939 mit der Rücksiedlung Deutscher aus Osteuropa, der massenhaften Deportation von Polen und der Ermordung der Juden begonnen hatte, war 1948 nahezu komplett. Insgesamt etwa fünfzig Millionen Menschen mußten zwischen 1938 und 1948 zumindest vorübergehend ihren Lebensort verlassen, knapp die Hälfte von ihnen nach 1944. Für sie war der Verlust der Heimat fast immer endgültig. Die Betroffenen brauchten oft Jahrzehnte, ehe sie den Schock der erzwungenen, „zweiten Völkerwanderung“ überwinden konnten.

Philipp Ther, 31, arbeitet am Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas der Freien Universität Berlin. Von ihm erschien Deutsche und Polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/ DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen 1998, Vandenhoeck & Ruprecht, 382 S., 74 Mark