Hinaus ins Offene!

Vom plötzlichen Tod – Nach 23 Jahren bekommt das Zan Pollo Theater keine Fördergelder mehr und muß schließen  ■ Von Hartmut Krug

„Das kurze Glück der kleineren Seeräuber oder: Harlekin als Pirat!“ – so hieß die allererste Produktion des Zan Pollo Theaters. Es wurde ein längeres Glück und dauerte 23 Jahre. Von der Gründungsmannschaft aus dem Jahre 1976 sind nur noch das „künstlerische Paar“ Ilona Zarypow und Peter Schöttle dabei. Anders gesagt: Die beiden sind das Zan Pollo und holen sich aus einem Pool von Berliner Künstlern ihre Mannschaften zusammen.

Als sich das Zan Pollo als Abspaltung der SEW-nahen Agitproptheatergruppe „Zentrifuge“ 1976 gründete, war das noch anders. Man war eine Art Schauspielerkollektiv: Alle 16 Mitglieder spielten, und für die anderen Arbeiten war jeweils einer hauptverantwortlich. Die ersten Jahre wurde Straßentheater gemacht und viel durch ganz Deutschland getourt. In Berlin wurde im Volkspark Hasenheide, später im Neuköllner Körnerpark gesellschaftlich engagiertes Theater im Stile der Commedia dell'arte gezeigt. „Das kurze Glück der kleineren Seeräuber oder: Harlekin als Pirat!“ wurde bei den Kreuzberger Festtagen nach nur drei Existenzmonaten und sieben Probenwochen präsentiert. Das Stück zeigte das damals noch nicht bewältigte Hauptproblem der Gruppe ganz deutlich, mit dem sich Zan Pollo in all seinen Inszenierungen mit wechselndem Erfolg herumschlug: und zwar die äußeren Formen, meist aus der Theaterhistorie entlehnt, mit heutigen Inhalten zu füllen.

Der Namenspatron Zan Pollo, ein venezianischer Wanderschauspieler, wurde zum Ahnherrn eines „aktuellen Volkstheaters“ ernannt, das mit artistischem Maskenspiel einem einverständigen „alternativen“ Publikum seine politischen Schlagworte bebilderte. Ein Beispiel hierfür ist „Laputa“ (1979) nach einer Szene aus Gullivers Reisen: Swifts Geschichte über die fliegende Insel Laputa, auf der die Herrschenden über ihrem Herrschaftsgebiet schweben, wurde von Zan Pollo politisch zielgerichtet verkürzt (vor lauter Denken kommen die Menschen nicht mehr zu zwischenmenschlichen Beziehungen). Ein Liederstreit der Herrschenden karikiert die bürgerliche Wahl, das Verhör eines arbeitslosen Jugendlichen durch ein „Flachgesicht“ verweist auf Gesinnungsschnüffelei.

Als sie 1982 gefragt wurden, ob Theaterspielen eher eine politische Aufgabe oder eher ein Vergnügen sei, war die Antwort: „Ja.“ Der Versuch zum Spiel, zur phantastischen Form, zur Komik und Groteske ist bei Zan Pollo allerdings von Anfang an zu spüren. In seiner 23jährigen Geschichte verkörpert es – geradezu paradigmatisch – den Aufstieg und Niedergang einer aus der Studentenbewegung emporgewachsenen freien Theaterform. Seine große Zeit erlebt das Zan Pollo in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre: Da entdeckt die Gruppe vor allem russische „absurde“ Autoren, bringt Daniil Charms, Wenedikt Jerofejew oder Wladimir Kasakow erstmals auf die deutsche oder gar die Weltbühne. Dafür entwickelt die Truppe um Ilona Zarypow und Peter Schöttle einen surrealen, auch tänzerisch durchchoreographierten und musikalisch grundierten Vorzeigespielstil, der das Bekannte in ein groteskes und fremdes Licht rückt.

SchauspielerInnen wie Anke Rupp, Friederike Lüers, Jürgen Wink und Werner Schuster stehen für einen vor allem körperlich- mimisch geprägten Stil, der auf eine sehr eigene und eigenartige Weise Tanz, Pantomime, Slapstick (aber leider Sprech-Schauspielerei nur ungenügend) und szenische Bilder verschmelzen läßt und durch die Konzentration auf einfache Grundsituationen im besten Fall magische Poesie entfaltete.

Doch bald wurde er zum schematischen Muster skurril-absurder Szenenfolgen und ermöglichte nur noch eine selbstzitierende Form. Es wurde deutlich: Zwei Regie- Köche köchelten allein im immer gleichen Regie-Sud, Anregungen von außen kamen nicht und wurden auch kaum gesucht.

Seit 1986 trat man in der einstigen Probeetage in der Steglitzer Rheinstraße auf – ein versteckter Spielort im Hintergebäude eines großen Hofkomplexes, hoch oben im fünften Stock. Wer sein Publikum hierherlocken wollte, der mußte große schauspielerische oder Werbekunst einsetzen. An letzterer hat es Zan Pollo immer gemangelt, und während nach der Wende die Berliner Mitte in Mode kam, das Neue, das andere gesucht wurde, igelte sich das Zan Pollo in seinem Theater an der Peripherie örtlich und stilistisch ein. Die Bühne, auf der nur für einige Wochen im Jahr zwei Produktionen gezeigt wurden, verschwand fast völlig aus dem Bewußtsein der Theateröffentlichkeit. Und Versuche, mit Gastspielen im knapp 90 Plätze bietenden Raum eine kontinuierliche Bespielung zu etablieren, schlugen schnell fehl. Zan Pollo hatte die Zeichen der Zeit verschlafen. Nun halfen auch die Erfolge der Vergangenheit wenig, ob Crommelyncks „Der herrliche Hahnrei“ in Meyerholds biomechanischem Stil (1977), ob Dacia Marainis „Stravaganza“ (1991), ob Ilona Zarypows brillante Witkiewicz-Inszenierung der „Rasenden Lokomotive“ (1993). Die fand im Theater am Halleschen Ufer statt. Doch diesen Weg heraus aus der Selbstisolation – der Steglitzer künstlerischen Zweisam- und Einsamkeit – gingen die beiden Gründungsmitglieder nicht konsequent weiter. Selbst die Versuche, die vier Elemente theatralisch zu bebildern, führten zu keiner überzeugenden Weiterentwicklung des bekannten stilistischen Repertoires.

Die künstlerische Präsenz Zan Pollos wurde immer geringer, eine künstlerische Entwicklung fand nicht mehr statt. Das seit 1986 geförderte Theater schien sich überlebt zu haben. Seit 1993 optionsgefördert, wurschtelte man in seiner subventionierten Steglitzer Nische so herum und ließ sich auch von der Verringerung der Optionsförderung im Jahre 1996 (von 400.000 Mark auf 250.000 Mark jährlich) nicht aufschrecken. Obwohl der Beirat seine Bedenken und Warnungen überdeutlich ausgesprochen hatte.

Nun hat die neue Jury „zur Förderung privatrechtlich organisierter Theater“ das Zan Pollo Theater aus jeglicher Förderung fallen lassen. Und das Protestgeschrei ist groß, aber zugleich auch merkwürdig ritualisiert. Denn alle reden von der großen Vergangenheit des Zan Pollo. Alt zu werden ist aber für ein Theater nicht die größte Leistung, jung zu bleiben ist wichtiger. Das hat das Zan Pollo nicht geschafft. Ich habe als treuer kritischer Weggenosse beim Zan Pollo 1994 zum letzten Mal eine Premiere besucht. Einer Probe entwich ich 1997 mit Grausen ob der handwerklichen Unfertigkeit und gedanklichen Erstarrung der Gruppe. Freies Theater hat seine Zeit; die ist in der Regel begrenzt. Entweder wächst es dann in eine neue Qualität, oder es muß sich auflösen. Das Zan Pollo hat sich längst aufgelöst, nur seine Macher wollen es nicht wahrhaben. Das Theater ist unsterblich, aber einzelne Theater sind sterblich! Natürlich ist die Art, in der einem Theater zum Jahresbeginn mitgeteilt wird, es bekomme nun kein Geld mehr, brutal. Und die Tatsache, daß wegen der späten Festsetzung des Haushaltes durch das Abgeordnetenhaus früher keine Förderentscheidungen gefällt werden konnten, tröstet da überhaupt nicht. Die Tatsache aber, daß Zan Pollo einen festen Mietvertrag für die eigene Spielstätte erfüllen muß, kann kein Faustpfand für Fördergelder sein. Daß die Kulturverwaltung hier versuchen wird eine Übergangsregelung zu finden, ist wahrscheinlich. Daß der Versuch von Ilona Zarypow, die Zan- Pollo-Spielstätte in der von Mitte so entfernten „Theatermeile“ als Produktionsort zu erhalten, auf längere Sicht möglich und nötig ist, wage ich zu bezweifeln.

Was aber auf jeden Fall bleiben wird, ist die Erinnerung an Theaterbilder, an groteske Situationen von Menschen wie du und ich, die sich gar nicht wie du und ich verhalten und die uns deshalb so nah waren. Das Zan Pollo Theater hat uns in seiner besten Zeit neugierig auf die Welt und uns selbst gemacht: Diese Haltung sollten die Zan-Pollo-Senioren für sich jetzt auch annehmen. Hinaus ins Offene, ins bunte Theaterleben jenseits von Steglitz!