Vergessen Sie die Peitsche nicht

■ „Wehe wenn sie losgelassen!“: Die ersten Frauen auf dem Fahrrad

Ende des vorigen Jahrhunderts hatten es endlich auch die Frauen geschafft, sich auf dem Veloziped zu behaupten. Jetzt war Haltung angesagt. Die radfahrenden Damen wurden regelrecht in die Pflicht genommen. So sollten sie sich „doppelt bemühen, durch ein richtiges, vollkommen fehlerloses Betragen zum Schwinden der Vorurteile gegen das Radfahren beizutragen“. Nie unweiblich daherkommen! Und stets auf sauber geputztem Rad! Der fahrbare Untersatz sollte „gleich dem Kochherde der musterhaften Hausfrau stets für die Nettigkeit und den Ordnungssinn ihrer Eigenthümerin das glänzendste Zeugnis ablegen“.

Verhaltensregeln aus dem 1897 in Wien herausgegebenen „Vademecum für Radfahrerinnen. Ein Hilfsbuch in Fragen der Fahrtechnik, der Gesundheit, der Etiquette und der Kleidung“. Nachzulesen bei der Historikerin Dörte Bleckmann, die ihre Magisterarbeit „über die Anfänge des Frauenradfahrens in Deutschland“ zu einem lesenswerten Fahrrad-Geschichtsbuch umgeformt hat („Wehe wenn sie losgelassen!“)

Folgt man ihr, so haben sich die Frauen in Deutschland und Österreich lange vom Fahrrad ferngehalten. Die velophilen Irrungen und Wirrungen überließen sie lieber den Männern – ob es nun das skurrile Laufrad des Freiherrn von Drais war oder das Hochrad, das Technikspielzeug der Herrenreiter. Erst als das niedrige Sicherheitsrad auf den Markt kam, dazu in der rockgeeigneten Version mit heruntergezogenem Oberrohr, wurde das „Damenradeln“ en vogue. Im Fahrradboom der Jahrhundertwende stellten die Frauen zwar nur eine Minderheit, aber schon wurden sie mit eigenen Radfahrzeitschriften bedacht („Draisena“ und „Die Radlerin“), gleichzeitig von der Männerwelt mißtrauisch beäugt. Die aufgebrachten Männer erregten sich nicht zuletzt über die „Röcke, die sich im Winde blähen“. Journalisten, Politiker, Mediziner, aber auch radfahrende Frauen selbst fühlten sich aufgerufen, den warnenden Zeigefinder zu erheben, vor Übermut, gesundheitlicher und sittlicher Gefährdung zu warnen.

So verbreitete sich der Arzt Martin Mendelsohn 1896 über den „Einfluß des Radfahrens auf den menschlichen Organismus“ und mußte zuerst einmal feststellen, daß die Frauen „rittlings mit ausgespreizten Schenkeln“ auf dem Sattel saßen. Sehr bedenklich! „Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass, wenn die betreffenden Individuen es wollen, kaum eine Gelegenheit zu vielfacher und unauffälliger Masturbation so geeignet ist, wie sie beim Radfahren sich darbietet.“ Erkenntnisse, die damals durchaus als seriös gehandelt wurden. Dörte Bleckmann wertet sie als Ausdruck von Prüderie, nicht aber als einen Versuch, speziell den Frauen das Radfahren ganz und gar zu verbieten. Schließlich habe sich Mendelsohn auch den radfahrenden Männern zugewandt und ihnen ähnliches attestiert: Häufig müßten sie ihre Fahrt unterbrechen, „da starke und andauernde Erectionen sie hindern, auf dem Fahrrade zu verbleiben“. Andererseits schreibt die Autorin auch von Pöbeleien und sogar tätlichen Angriffen, die in den frühen Jahren allein den Frauen galten.

Doch einige fuhren unbeirrt weiter – und führten am Lenker womöglich eine Hundepeitsche mit. Deren Einsatz empfahl die „Draisena“ auch gegen zweibeinige Belästiger. Da taucht zwangsläufig die Frage auf, ob das Fahrrad ein Vehikel der Frauenemanzipation war.

Eine Frage, die Dörte Bleckmann differenziert beantwortet. Klar hätten Radfahrerinnen seinerzeit Grenzen überschritten, wurden dadurch „selbständiger und unabhängiger“, lernten durchs Radfahren „leichtere und praktischere Kleidung kennen und schätzen“. Doch allenfalls sei eine Wechselbeziehung zwischen Frauenemanzipation und Radfahren festzustellen. Von einer gesellschaftlichen Sprengkraft könne schon deshalb nicht die Rede sein, weil die Radlerinnen „nur eine kleine Minderheit nicht nur der Frauen insgesamt, sondern auch der bürgerlichen Frauen bildeten“. Das beinahe nüchterne Fazit ihres ansonsten quellenreichen Buches: „Radfahren war um die Jahrhundertwende in erster Linie eine individuelle Form der Emanzipation, und zwar für diejenigen bürgerlichen Frauen, die es sich finanziell leisten konnten, sich dafür entschieden und genügend Freizeit hatten.“

Bereits 20 Jahre später, als das Rad auch für weniger wohlhabende Frauen erschwinglich war, da war es bereits entmystifiziert und kaum noch mit Vorurteilen beladen. Und es war schon auf dem Wege, zu dem profanen, aber überaus nützlichen Verkehrsmittel heutiger Zeit zu werden. Helmut Dachale

Dörte Bleckmann: „Wehe wenn sie losgelassen!“. Maxime Verlag Maxi Kutschera, 29,80 DM