Im Labyrinth der Alphabete

Erinnern Sie sich an Renée Green? Anfang der neunziger Jahre arbeitete die afroamerikanische Künstlerin komplexe Installationen zu „kultureller Differenz“ und „Otherness“ aus. In der Wiener Secession setzt sie nun auf die Verführungskraft der Ambient-Ästhetik  ■ Von Isabelle Graw

Der Hauptraum des Wiener Museums Secession gilt wegen seiner Größe als „schwierig“. Wie ihn die eingeladenen KünstlerInnen – auch im Vergleich zu der Geschichte bisheriger künstlerischer Vorschläge – bewältigt haben, das war bislang entscheidend für die Bewertung. Die aktuelle, als kleine Retrospektive (1996–99) angelegte Ausstellung „Between and Including“ von Renée Green ist in dieser Hinsicht ein Coup: Wurde doch ein Labyrinth konstruiert, das auf einem systematisch gebrochenen Raster des Raumes basiert und zu einer Folge von Kojensituationen führt. „Ortspezifisch“ ist dieser Einbau nur in dem Sinne, als er andere Eingriffe vor Ort ins Gedächtnis ruft, etwa die Stellwände des Künstlers Heimo Zobernig, die seine Initialien darstellten, oder das Filmset aus Sperrholz von Paul McCarthy und Mike Kelley.

Auch bei Green handelt es sich um eine totale Architektur, die den Betrachter richtiggehend einfängt. Ein vorzeitiges Verlassen der Ausstellung verunmöglichen nämlich weiße, den Weg versperrende Wände, die mit Zitaten beschriftet (Jean Genet, Hollis Frampton) oder farbig bemalt wurden. Auf diese Weise halten sie einen förmlich dazu an, den Gang durch die Ausstellung vollständig zu absolvieren. Jener Wunsch, daß sich der Betrachter mit den Prämissen der Arbeit beschäftige, der insbesondere bei thematisch arbeitenden KünstlerInnen besonders ausgeprägt ist, findet hier seine perfekte ästhetische Entsprechung.

Green wird nicht zu Unrecht zur Generation postkonzeptueller KünstlerInnen gezählt, deren größter gemeinsamer Nenner wohl in der Überzeugung besteht, daß Schreiben, Kuratieren und Organisieren selbstverständlicher Bestandteil von „künstlerischer Praxis“ sind. An einem erweiterten Modell von künstlerischer Kompetenz wurde letztlich auch in Wien festgehalten, wenn Green im Zuge der Ausstellung eine Gesprächsrunde mit Joe Wood und Lynne Tillman sowie eine Filmreihe konzipierte.

Während der Aspekt „Vermittlung von Inhalten“ für Green immer zentral gewesen ist, scheint heute das Prinzip „visuelle Verführung“ an Bedeutung zu gewinnen. Dafür spricht jedenfalls das sorgfältig ausgewählte Farbspektrum der bemalten Wände, das von den Modefarben der Saison (Wasserblau, Hellbeige) bis zu 70er-Jahre- Farben (Avocadogrün, Orange) reicht. Hat man es womöglich mit Wandmalerei zu tun? Diesen Eindruck bestätigen ausgemalte Treppengänge und tote Ecken des Labyrinths, die die räumliche und ästhetische Dimension unterstreichen.

Anfang der 90er Jahre gehörte es noch zu einer angemessenen Rezeption der Arbeit von Green, daß man die Subtexte studierte, etwa den Fall der sogenannten Hottentottenvenus, die Geschichte des Sklavenhandels im Frankreich des 18. Jahrhunderts, sowie Debatten um „Multikulturalismus, „Otherness“ oder „kulturelle Differenz“. Von einer Verschiebung zeugt die aktuelle Ausstellung insofern, als dem Betrachter signalisiert wird, daß er sich mit dem reichlich ausgebreiteten Material (Videos, Platten, Bücher) beschäftigen kann, aber nicht muß. Ebenfalls vorgesehen ist das Flanieren durch Farbfelder und Stilgeschichten. Historische Bezüge scheinen zwar noch auf, etwa eine verschüttete Arbeit von Robert Smithson von 1970 oder die Studentenunruhen desselben Jahres in Kent-State. Dies jedoch aus einer betont subjektiven, assoziierenden Perspektive. Auf Legenden oder andere Formen der Erklärung wurde verzichtet.

Die Betonung der ästhetischen Dimension steht exemplarisch für eine progressive Akzentverschiebung. Hat doch Green selbst in den letzten Jahren verstärkt darauf hingewiesen, daß es in ihrer Arbeit um mehr als um Identitätspolitik gehe. Damit reagierte sie auf eine fatale Tendenz der Kunstwelt, ihr Werk auf das einer schwarzen Künstlerin zu reduzieren. Dabei hatte Green immer schon für ein verkompliziertes, erweitertes Modell von Identität plädiert, in Anlehnung an Vorschläge der Cultural Studies.

Daß der Komplex des Visuellen heute mehr Raum denn je einnimmt, läßt sich auch mit dem aktuellen kunsttheoretischen Interesse an der spezifischen Logik des Visuellen kurzschließen. Auch die heftigen Diskussionen um Konzepte wie „Ortspezifik“ oder „Institutionskritik“ haben ihre Spuren in dieser Ausstellung hinterlassen. Der in letzter Zeit von zahlreichen Künstlern favorisierte „buchstäbliche“ Bezug auf den Ort ist schon dadurch gewährleistet, daß andere ins Spiel kommen: Orte früherer Ausstellungen, die in der Secession rekonstruiert werden – New York, Köln, Kwangju, Fribourg, Mailand. Weder die Stadt Wien noch die Institution der Secession werden unmittelbar adressiert. Ausgenommen jene Wiener Passanten, die in dem Film „Some Chance Operations“ nach ihren Erinnerungen an Neapel befragt werden.

In demselben Maße, wie dieser (neue) Film künstlerische Methoden von Green aufgreift, wurde die Ausstellung wie ein Filmerlebnis konzipiert. Zumal der Film in einer Art Kammer vorgeführt wird, die mit beichtstuhlartigen Sitzen und purpurnen Kissen das Prinzip „Inneneinrichtung“ der Ausstellung fortsetzt. Umgekehrt läßt die Ausstellung vor den Augen des Betrachters ein Set von künstlerischen Methoden Revue passieren – wie im Kino. Angefangen von den für die Konzeptkunst typischen Karteikarten in „Flow“, den minimalistisch anmutenden Plexiglasboxen mit Büchern des Bestsellerautors James Mitchener, bis hin zu den Vitrinen mit Reisereliquien, die auf Beuys anspielen, oder den Filmstills mit integriertem Alphabet, die Broodthaers aufrufen.

Von diesen Kommentaren ist Greens eigene Praxis natürlich nicht ausgenommen. Wo früher Schreibtische in ihren Ausstellungen plaziert wurden, an denen sie gegebenenfalls selbst arbeitete, wie um den Akt des Aufzeichnens performativ in Szene zu setzen, steht die klapprige Schreibmaschine heute dem Publikum zur Verfügung. Darauf, daß der „subjektive Faktor“ zurückgenommen wurde, deutet auch eine Überschrift wie „Simulated Vinyl Diary“ über dem Plattenschrank hin – handelt es sich doch um die Konstruktion einer authentisch wirkenden Plattensammlung mit Klassikern des Soul.

Als besonders gelungen habe ich die Inszenierung und Aneignung von sogenannten Ambient- Räumen empfunden. Dadurch, daß die Kojen wie Zimmer mit herumliegenden, farbig bezogenen Kissen eingerichtet wurden, drängt sich der Vergleich zu ähnlichen Arrangements von den derzeit recht erfolgreichen Künstlern Tobias Rehberger oder Lothar Hempel auf. Ein entscheidender Unterschied besteht jedoch darin, daß bei Green deutliche Zeichen für Musealität ausgesendet werden. Es sind nicht zuletzt die wertvollen Designerlampen aus den 70er Jahren, Chromtische und Bastteppiche, die für ästhetische Prinzipien und gegen die Vermutung sprechen, hier solle primär abgehangen werden. Skepsis an der weit verbreiteten Idee, daß der Betrachter unmittelbar partizipieren könne, wird dadurch vermittelt, daß nicht etwa sämtliche Bücher und Platten zur freien Benutzung herumliegen, sondern zum Teil demonstrativ eingeschlossen wurden.

Wie Kunstwerke archiviert bzw. erinnert werden – das ist das zentrale Thema dieser Ausstellung. Edouardo Cadava hat in seinem Buch „Words of Light“ (1997), das Green häufig zitiert, auf die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Bildern und Erinnerung hingewiesen: Von Projektionen durchzogen und niemals realistisch. Insbesondere in dem Film „Some Chance Operations“ wird der Versuch, Erinnerung zu materialisieren, offensichtlich: unscharfe, absichtlich verwackelte oder sich auflösende Bilder, die von Musik, Stimmen und Zwischenüberschriften überlagert sind. Als Aufhänger diente die Figur der Filmemacherin Elvira Notari, eine italienische Filmemacherin, die in den 20er Jahren extrem erfolgreich war und seither fast in Vergessenheit geriet. Drehte sie doch über 60 Filme, von denen nur drei erhalten geblieben sind.

Die Angst vor dem Vergessenwerden ist es auch, die diese Ausstellung leitmotivisch durchzieht. Als wolle Green die Archivierung ihrer früheren Arbeiten selbst in die Hand nehmen, mit allen Verzerrungen, die in der Rekonstruktion mitschwingen. Für die Annäherung an Elvira Notari bedarf es folglich mehrerer Erzählstränge: Theoretische Reflexionen verschränken sich mit dem dokumentarisch-fiktiven Bericht einer Reise nach Neapel, Einblendungen von Filmausschnitten verschmelzen mit aktuellen Befragungen.

Die Methode von Green wird im Film treffend als „random“ beschrieben, was sich mit wahllos, ziellos oder willkürlich übersetzen läßt. Tatsächlich trifft man häufig auf willkürlich anmutende Konstellationen, wenn beispielsweise folgende Namen auf Karteikarten zusammengebracht werden: Bowie, David, Bataille, Ambient House, Gustave Courbet, Nirvana und William Blake. Abgesehen davon, daß es sich hier um eine Sammlung romantischer Figuren handelt, die auf einem Index basiert, steht diese „krude“ Mischung auch für die freie Assoziation als künstlerische Methode.

Ein anderes Mittel, mit dem sprunghafte Gedanken in scheinbar geordnete Bahnen gelenkt werden, ist das in Ausstellung und Film häufig figurierende Alphabet. Geht dieses Spielen mit freien Assoziationen und Ordnungssystemen nicht auf Kosten dessen, was früher einmal Anliegen hieß? Ich glaube nicht. Es ist auch nicht so, daß ein Abschied von einem Modell von Kunst, das sich der Analyse verschrieben hatte, kurz bevorstünde. Analytische Überlegungen werden immer noch angestellt, nur gehen sie jetzt verschlungenere Wege über Bilder und Töne.

Renée Green: „Between and Including“, bis 14.4., Secession, Wien.

Isabelle Graw ist Herausgeberin von „Texte zur Kunst“. Ihr Essay-Band „Silberblick – Texte zu Kunst und Politik“ ist vor kurzem im ID Verlag erschienen.