Melancholie

für Millionen Der Erfolg als Paradoxon: Wolfsheim sind die Retter eines Independent-Gedankens, der ihnen selbst abgesprochen wird  ■ Von Michael Hess

Meyer Wolfsheim ist ein Spieler. Ein seltsam sentimentaler Nebencharakter aus F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby, der bis auf fremde Zuschreibungen, die er wie eine zweite Haut trägt, kaum mehr von sich zu erkennen gibt. „Eine nicht einschätzbare, schillernde Figur“, ergänzt Peter Heppner nach einigem Zögern und gibt anschließend zu, daß der Taufpate für seine Band so unpassend wohl nicht gewesen ist: „Wolfsheim ist der einzige Charakter, aus dem man überhaupt nicht schlau wird.“

Peter Heppner und Markus Reinhardt sind keine Spieler, sondern Popstars – was manchmal dasselbe ist. So stünden Wolfsheim ihrem literarischen Namensgeber an gleichmütiger Schemenhaftigkeit in nichts nach. Zwölf Jahre lang schoben die beiden Wilhelmsburger den Wust an Vorurteilen sisyphushaft vor sich her, um dann doch aus eigener Kraft den Pop-Olymp zu erklimmen. Dort oben in atemlos dünner Luft genossen sie mit ihrem aktuellen Album Spectators ganze fünf Wochen lang die Aussicht. Neben Cher und BAP standen Wolfsheim plötzlich Top of the Pops. Laut Chartplazierungen und ausverkaufter Sporthallen sind Wolfsheim derzeit Hamburgs populärster und mit Abstand erfolgreichster Independent-Act der Republik. Und das vor Blumfeld. Wie aber konnte das passieren?

Das fragen nicht nur die, die nun wieder Gründe sehen, die Band ungehört ins rechte Lager zu schieben. Der Vorwurf des Sympathisantentums klebt an Wolfsheim wie ein altes Kaugummi, das jedoch durch bloßes Nachkauen nicht gerade an Substanz gewinnt. „Es gab jede Menge Irrungen und Wirrungen, gerade was unseren Namen angeht,“ gesteht Heppner und verweist jeden Interviewer geduldig auf die Autonomie des Künstlers: „Für mich zählte in erster Linie der Klang des Namens.“ Doch ist es allein eine Unbefangenheit in Geschmacksfragen, die die Popularität dieser Band ausmacht? Eine Band, die nie angesagt war, deren Gefolge dennoch beständig wuchs und und die gerade deswegen selbst durch Erfolg nicht aus der Bahn zu werfen ist.

Der Stoizismus, mit dem Wolfsheim dabei gegen alle Widerstände des medialen Zeitgeists zu Felde ziehen, hat schon fast etwas Pionierhaftes. Mit unbeirrbarem Glauben folgen Heppner und Reinhardt selbst ihrer Musik, schreiben Autogramme und freuen sich über jeden Bekennerbrief aus neugewonnenen Missionen. Alles eine Sache der Überzeugung? Eher der Überlieferung. Denn musikalisch galten Wolfsheim nie als grenzerweiternd. Man schwört auf die Achtziger und müht sich in ästhetischer Apologie an Bands wie Depeche Mode, Bauhaus oder Eyeless in Gaza – Melancholie für Millionen. Die zwei schwarzgekleideten Romantiker lassen sich in ihrem Tun weder von den Neunzigern noch durch die Schwerhörigkeit ihrer dort lebenden Kritiker groß beeindrucken. Mit der ihnen vielerorts unterstellten Neuen Deutschen Härte haben Wolfsheim jedenfalls so viel gemein wie einst Schumann mit Wagner.

Der Erfolg verschafft Genugtuung. Zufrieden blicken die beiden zurück und sehen dort vor allem die jahrelange Zusammenarbeit mit Strange Ways, dem Hamburger Label, mit dem man gemeinsam groß wurde. „Es war uns wichtig, diesen Erfolg mit den Leuten zu teilen, die jahrelang an uns geglaubt haben.“ Wolfsheim markieren mit dieser Bescheidenheit eine historische Zäsur innerhalb des deutschen Musikmarktes. Zum ersten Mal gelangte eine Band von einer klassischen Independent-Firma an die Spitze der deutschen Verkaufscharts.

Das Paradoxe dabei ist: Wolfsheim stehen nun als Retter eines Independent-Gedankens da, der auf sie selbst selten Anwendung fand. „Mit dem Einstieg in die Charts verstummten die jahrelangen Vorwürfe, unsere Musik sei zu kommerziell“, wundert sich Reinhardt über den plötzlichen Paradigmenwechsel. Gerade in der eigenen Stadt leben die Wilhelmsburger in einer Parallelwelt, mit der gern zitierten Hamburger Schule teilt man gerade mal das Autokennzeichen. „Wir sind dort nie akzeptiert worden, weil wir aus deren Sicht wohl nicht intellektuell genug waren“, meint Heppner schulterzuckend.

Tatsächlich hatte man in Wilhelmsburg nie eine Schanze. „Durch die geographische Entfernung zu dem, was in Hamburg sonst so lief, konnten wir ungestört unser Ding durchziehen.“ Mittlerweile konnte man sich es sogar leisten, fortzuziehen. „Niemand lebt dort, weil er es toll findet“, weiß Heppner und zieht ein düsteres Fazit unter sein früheres Leben an seinem Geburtsort, „Wilhelmsburg wurde immer vergessen und fehlt sogar auf manchen Stadtplänen.“ Gab es jemals eine Wilhelmsburger Boheme? „Klar doch, ich bin Bo und Markus ist Heme.“