Oh taz, du böse Schlange!

Zwanzig Jahre gibt es sie nun, die sogenannte alternative Tageszeitung namens taz. Legionen von Journalisten haben in diesem Blatt seither gearbeitet. Viele hofften, selbstbestimmter, wahrhaftiger und aufklärender arbeiten zu können. Einige gingen eilig, um woanders Karriere zu machen. Andere verließen die taz aus enttäuschter Liebe. Ein Ehemaliger aus frühen taz-Jahren hat sich den heutigen taz-Alltag angeschaut. Herausgekommen ist eine Liebeserklärung  ■ von Tom Schimmeck

Berlin, Montag morgen, Kochstraße 18. Benommene Gestalten, die sich mechanisch einen Kaffeebecher greifen und ihn durchs Treppenhaus balancieren. Grüßen einander einsilbig, verschwinden auf den Etagen. Etwas verloren blickt der Reporter ihnen nach. Er, der vor der vorletzten Eiszeit bei dieser Zeitung war und hier kein Schwein mehr kennt, soll aufschreiben, wie es zugeht in diesem Blatt. „Tag, ich bin...“ „Grumpfgrummel.“

Er erreicht den zweiten Stock, tastet sich links den Gang entlang. Verwinkelte Glasterrarien, gefüllt mit vielen Schreibtischen. Dort sitzt ein einsamer Frühaufsteher. Sapperlot, ein Veteran: Carlo ist grau geworden. Die taz beschreiben? Der Chef vom Dienst fletscht die Zähne zu einem Vorfrühstückslächeln. Gewiß hat er noch gröberen Unfug die Spree herabkommen sehen. Aber keine Zeit, keine Zeit. Die Ticker schnurren über den Schirm, und gleich ist Konferenz. „Oh Gott, ich habe 311 E-Mails!“ jault sein Gegenüber. Jawoll, hier wird gearbeitet.

9.34 Uhr, Redaktionskonferenz. Carlo und Konsorten haben ihre Listen fertig, die Ressorts sind präsent. Ein junger Mann absolviert eine lustlose Heftkritik, redet länglich über „Textqualität“ und „handwerkliche Probleme“. Kaum ist er endlich fertig, geht es zack, zack. Deutschland ist im Krieg, und die tazler lassen das Blatt rascheln. Krisenzeiten tun der Zeitung gut, sagen sie. Je mehr die Weltlage der Crew an die Nieren geht, desto lauter, breiter, dreister wird das Blatt.

Von wegen taz-Chaos. Die Diskussion: sehr kurz und auf den Punkt. Wie verläßlich sind die Zahlen? Wo muß morgen der Schwerpunkt liegen? Da steht ein Reporter auf, der gerade in der Bundeswehrkaserne Schneeberg war, ein Ausbildungsplatz für den Makedonieneinsatz. „Das Problem ist“, sagt er, „ich hab' siebenhundert Zeilen, und die Fotos sind gut.“ Man schenkt ihm ohne Getue zwei der sieben Sonderseiten zum Kosovokrieg.

Carlo ist ein mächtiger Mann. Gut vorbereitet, der frühe Vogel fängt den Wurm. Rattert das Programm runter, klärt neun Seiten in acht Minuten. Hat alles im Griff, wird aber einen Teufel tun, die anderen das spüren zu lassen. Bei der taz wird Macht nur widerwillig verliehen, darf nie wie welche daherkommen. Carlo ist ein Routinier in diesem Minenfeld: Er kommt so soft daher, dirigiert den Laden mit Demut und einem gaaanz lieben Lächeln.

Seit Jahren hat auch die taz Chefs vom Dienst, Chefredakteure, inzwischen sogar einen Mittelbau von Ressortleitern. Das hat den Abrieb sicher reduziert oder vielleicht einfach nach oben verlagert. Chefredakteure wurden im Dutzend verbraucht. Gerade steigen wieder zwei Redaktionslenker aus. „Wir gehen jetzt, damit wir ohne Groll gehen können“, erklären Klaudia Brunst und Michael Rediske. „Den Stein des Sisyphos müssen jetzt andere hinaufrollen“, sagt Rediske in seinem Glaskasten, sichtlich erleichtert.

Wie hat der Ökoredakteur so schön gesagt? „Wenn du hier Karriere machst, biste am Arsch; du kriegst alles ab, wenn die Scheiße fliegt.“ Die Hierarchie ist ein wacklig Ding geblieben in der taz. „Es gibt ständig beides“, meint Innenpolitikressortleiter Jens König, „einerseits die Erwartung, die Chefs mögen Gott sein und Geld, Erfolg und Talente bringen. Und zugleich dieses Alles-in-Frage-stellen.“

„Ich nehm' die Chefnummer hier nicht mehr so ernst“, sagt eine Redakteurin, „ich brauch' die nicht“, meint eine andere. Nein, Macht aus Zement gibt es hier nicht. taz-Macht ist eher gallertartig – wer sich drauf stützt, kann Überraschungen erleben. „Sich in einem System mit flachen Hierarchien durchzusetzen“, weiß Bascha Mika, die dritte Chefin, „ist nicht unbedingt immer angenehmer, leichter oder fairer.“ Nicht unbedingt, nein.

11.40 Uhr, Ad-hoc-Konferenz zum Kosovo. Eine Handvoll Entscheidungsträger stehen beisammen: Chefredakteurin, Chef vom Dienst, Leiterin Ausland, Leiter Innenpolitik. Firlefanz verboten. Das Tempo zieht an: Was von wem wann wohin wie lang? Der Rest der Redaktion senkt die Finger in die Tastaturen, heftet die Augen auf die Bildschirme. Gott, geht das flott. Wie konstruktiv sie miteinander umgehen! Das ist nicht einfach nur Normalität, das ist ein zivilisatorischer Sprung. Haben sie gelernt, daß Zerfleischung nicht glücklich macht, nicht produktiv ist und nicht gut für den Teint?

Nicht, daß sie hier heute ständig Händchen hielten und schöne Lieder sängen. Da fliegen zuweilen Fetzen, es kann immer noch verdammt persönlich werden, wenn die Stimmung sich auflädt. Ja, eine gewisse Härte ist geblieben, auch diese Alternativmuffeligkeit hat überlebt. Aber der Grundton ist nicht mehr bumm-bumm. Der Eindruck: Man denkt hier gemeinsam nach, um Dinge zu klären, Entscheidungen zu finden – weniger, um das Prinzip hochzuhalten, das Ego zu spiegeln, Terrain zu markieren. Es soll bedeutende Redaktionen in Deutschland geben, wo dies nicht die Regel ist.

Der Veteran kommt sich ein bißchen albern vor, an den alten Tatort zurückzukehren – wie eine mißglückte Kreuzung aus rotem Großvater und reichem Onkel aus Amerika. Einerseits sind wir, die Gründergeneration, natürlich die großen Helden, die tollen Pioniere, die soooo wagemutig waren und, jaaaa, noch viel beschissener bezahlt. Wir hatten noch knackige Ideale und richtige Feinde. Es duftet immer ein bißchen nach Ostfront, wenn die alten Kämpen das Maul aufmachen. „Ein bißchen wie ,Opa erzählt vom Krieg'“, sagt ein Redakteur, den die Veteranen manchmal nerven: „Wir sind nicht die Stellvertreter ihrer Jugend.“

Aber es ist dann auch wieder rührend nachzulesen, wie sich alte Feinde beim Rückblick auf harte Zeiten in die Arme sinken, etwa im aktuellen taz-journal. Oh taz, du böse Schlange: Für Ex-Chef Arno war sie „ein Betrieb, in dem man nie, nie gelobt wurde“. Ex-Chef Micha denkt mit Grauen an ihre „Unerbittlichkeit“, Ex- Chef Thomas an ihre „Verlogenheit“. Sie war, seufzt Ex-Chefin Georgia, „der permanente Härtetest“.

Zeigt her eure Narben. Da spürt man die Bitterkeit, die das Abenteuer taz hinterlassen hat. Viele haben das Organ mit der Gewißheit verlassen, daß die Hölle wohl selbstverwaltet sein muß. „Eigentlich war es ziemlich furchtbar“, sagte mir neulich die Ex-Korrektorin Andrea, die heute Ministerin ist. Das sollte man vielleicht vorne draufdrucken: „Die Bundesgesundheitsministerin warnt: taz gefährdet die seelische Gesundheit.“

Im Ernst: Der Laden war auch ein grausamer Psychogrill, das Private über alle Schmerzgrenzen öffentlich. Wir waren eben auch total unsicher – weil kaum jemand eine Ahnung hatte vom Schreiben und vom Redigieren, von Layout, Vertrieb und Buchführung. Wer nicht souverän ist, schafft sich Strukturen, die Arschlöchrigkeit geradezu forcieren. „Man stirbt nicht am Stich deines Messers“, habe ich meiner Lieblingskollegin zum Abschied zugerufen, „sondern an der Blutvergiftung, die es hinterläßt.“ War auch nicht gerade die feine Art.

Es ist schon verrückt: Von der ersten bis zur sechsten Etage hört man heute das Loblied auf die bürgerlichen Umgangsformen. Und die Klage, daß diese immer noch nicht wirklich etabliert seien. Vor allem, wenn es nicht gutgeht. Dann, so beobachtet der Innenpolitiker König, nehmen die Umgangsformen ab: „Schlecht gelaunt, unausgeschlafen, keene im Bett abgekriegt – all das wird untereinander abgelassen, unglaublich...“ „Einige bräuchten dringend einen Benimmkurs“, sagt Altsäzzer Georg Schmitz. Bei so viel Problembewußtsein muß der Durchbruch der Freundlichkeit unmittelbar bevorstehen.

14.08 Uhr, schnelle Stehkonferenz. Was ist an Kommentaren da? Wie steht es um die Titelseite? Nach sieben Minuten geht es weiter à la Stachanow. Das Terrarium summt emsig. Schon ein Wunder, wie aus diesem Gewusel jeden Tag aufs neue eine Zeitung wächst. Man könnte religiös werden beim Zuschauen. Und alles ist so unsichtbar. Früher gab es noch diese langen Papierstreifen, die zugeschnitten, von hinten mit warmem Wachs bestrichen und dann auf Seiten geklebt wurden. Das war ein sinnlicher Vorgang. Heute bleibt das Produkt bis zum späten Nachmittag ein ungreifbarer Haufen Bytes.

Es ist ein bißchen perfide, mitten im Streß die Frage nach der Identität aufzuwerfen. Wie tickt der tazler heute? „Du gehst hier rein und bist bis zum Schluß im Irrsinn“, sagt Carola Rönneburg, 35, vom Referat „Wahrheit“. Die muß einen dicken Pack taz-Identität schultern, ist die „Wahrheit“-Seite doch der finale Beweis, daß die Zeitung unkonventionell sein kann und gern auch mal gemein.

Je dröger der Rest, desto wichtiger die „Wahrheit“. Natürlich ist ihr das Restblatt viel zu normal, zu brav. Schon wie die Zeitung mit diesem Krieg umgeht: „Warum steht vorne nicht AUFHÖREN! drauf?“ Dazu fuchtelt sie sehr eindrucksvoll mit feuerroten Fingernägeln. „Ist doch auffällig“, sagt sie, „die Gastbeiträge sind viel radikaler als die Artikel der taz-Redakteure.“ Warum sie hier ist? „Na, wegen der Arbeit natürlich, wegen der Eigenverantwortung, dem Gefühl, daß ich was prägen kann. Jeder hier definiert sich über Arbeit, nicht mehr über die gute Sache.“

Gibt es noch Herzblut? „Das klingt immer so protestantisch-aufopferungsvoll“, findet Ökoredakteur Bernhard Pötter, 33 Jahre. „Ich arbeite hier verdammt gerne, aber nicht für das Wohl der Weltrevolution. Ich werde dafür bezahlt, meine Nase irgendwo hineinzustecken – und hier bestimme ich auch noch, wo rein.“

15.03 Uhr, Nahkampf mit dem neuen Redaktionssystem. Das Ressort Wirtschaft und Umwelt hängt drastisch hinterm Zeitplan. Prima Ausrede: das neue Redaktionssystem, heute hier eingeführt. Die Mausklicks sitzen noch nicht so richtig. Zwei Aufpasserinnen sehen dem Produktionsredakteur über die Schulter – damit er nicht versehentlich alles löscht. „Jetzt isses eh egal“, murmelt er. Immer schön Oberkante Unterlippe.

Christian Semler erzählt, daß er vorhin die ganze Seite Politisches Buch wegschmeißen mußte, weil sich herausstellte, daß alle Texte schon mal erschienen waren. Sie haben flott was Afrikanisches reingenommen – dreieinhalb Stunden zu spät. Dabei sagt jeder hier: Wir sind professionell. Es wirkt wie ein Schutzschild. Zum Beispiel gegen das Thema Geld. Das ist immer heikel – und die Antithese zur Freiheit. Da fehlt jedes Erfolgserlebnis, da werden alle sofort depressiv.

Die Auflage ist seit Tschernobyl wie festgenagelt, geht sogar leicht abwärts derzeit. Die Bilanz läßt keine Luft für neue Experimente, mehr Leute, mehr Seiten. Im Gegenteil. „Wir sind immer kurz vorm Abschiffen“, sagt Redakteurin Barbara Dribbusch, „daß es nicht aufwärts geht, das nagt.“ Ein anderer sagt ganz melancholisch: „Wir warten auf ein Zeichen.“

Die Gehälter sind über die Jahre gestiegen. Aber es nervt viele, „daß man immer noch irgendwo dazuschrubben muß“ oder eine Erbschaft machen muß oder einen Partner haben muß, der „richtig verdient“. Das Geld ist ein Grund dafür, warum die Fluktuation so hoch ist, die taz Leute schlecht binden kann. Seit Jahren fungiert das Blatt als eine journalistische Ferkelzuchtanstalt der deutschen Publizistik.

Sie ist ein Abenteuerspielplatz, auf dem Leute sich ausprobieren können, bevor sie in den großen Apparaten verschwinden, wo die alten Hierarchien herrschen, die Marketingabteilungen und der Komment der Männerbünde. Manchmal, wenn Redakteure gerade wieder in Scharen gehen, überkommt die Zurückgebliebenen eine Art Torschlußpanik. „Manche würde sicher ganz gerne gefragt werden und dann vielleicht auch ablehnen“, meint Madame „Wahrheit“.

„Man schämt sich fast“, sagt Carlo im Vorbeigehen, „hier schon so lange zu sein – als hätte man's zu nichts gebracht...“ Aber der Braindrain hat auch Vorteile: Die taz kann gar nicht alt werden. Ständig kommen neue junge Leute nach, und weil die Personaldecke chronisch dünn ist, müssen sie auch richtig ran. „Der Laden leidet nicht unbedingt an Überbesetzung“, sagt die Praktikantin, „hier muß man ins kalte Wasser springen und schreiben.“

Was tröstet: daß es ihre Zeitung ist (und die von viertausend Genossenschaftsmitgliedern). Daß sie verantwortlich sind und gelegentlich richtig zufrieden. „Manchmal bin ich stolz über etwas, das keine andere Zeitung hinkriegt“, sagt Medienredakteur Lutz Meier. „Wir trauen uns mehr“, sagt Chefredakteurin Mika, die nun zu einer Portion erläuternder Worte ganz nach oben bittet. taz-typisch, erklärt sie, seien heute nicht mehr Themen oder ideologische Kriterien, sondern nur noch der andere Blick, die andere Form – „daß wir was Besonderes sind“. Sie ist bemüht, da ganz positiv zu sein, denn sie haßt „diesen Masochismus der ehemals Linken“.

Zum zwanzigsten Geburtstag, so Mika, also ein Schuß „Back to the roots“. Das Blatt hat in letzter Zeit wohl zu sehr auf vermeintlich große Vorbilder geschielt. „Die Keule“, sagt ein Redakteur, „ist immer: ,Ey, guck mal, das stand in der Süddeutschen und nicht bei uns...?“ Merkwürdig, diese Ehrfurcht vor den anderen Blättern. Da kippt der tazler-Stolz ganz flott Richtung Komplex – als betrachteten sie sich durch ein umgedrehtes Fernglas.

17.30 Uhr, Planungskonferenz. Die Chefs vom Dienst, durchgeschwitzt, gucken selig. Noch ein schneller Besuch unterm Dach, im Archiv, wo auch die Devotionalien verwahrt werden: Ordner mit internen Papieren, der alte Fernschreiber, der schaurige Gong, der zu den Konferenzen rief. Was ist geblieben, Archivar? „Die ewige Suche“, sagt Randy Kaufman, „nach besseren Strukturen.“

Zurück ins Epizentrum, zu Georg Schmitz. Er starrt in vier Schirme, beamt die Seiten zu den Druckereien in Frankfurt, Hamburg und Berlin. „Ich kann mir ins Gesicht gucken“, sagt er, „und da sitzt keiner, der mich für seinen Drittwagen schuften läßt.“ Dann geht die letzte Seite weg. Um 17.39 Uhr meldet der linke Bildschirm: „Todesschußsuccessfully transferred 9302 Bytes. Dummy: Quit“.

Tom Schimmeck, 39, war vor zwanzig Jahren taz-Mitgründer, später auch des Hamburger Lokalteils und des Bonner Büros. „Mein Fell“, sagt er, „war nicht dick genug.“ Er arbeitet mittlerweile für die Woche