„Unser Alltag spielt in einem Vakuum“

■  E-Mail aus Belgrad: Die taz dokumentiert in loser Folge die Briefe der 24jährigen Studentin „Andjela“ an ihre Freunde beim Augsburger Jugendmagazin „X-Mag“. Heute Teil 2

Lieber Albert,

Es ist jetzt mehr als zwei Wochen her, daß der Krieg begann. Jeder Krieg ist sinnlos, aber dieser wird so absurd, daß es die Geschichtsschreiber eines Tages schwerhaben werden, ihn zu erklären. Es gibt keine „Guten“ mehr, keinen Fortschritt, und es gibt auch keine Hoffnung auf Besserung. Nur Zerstörung, Exodus und ein wüstes Gewirr von politischen Spielchen, in denen wir gefangen sind. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich keinen Ausweg, nicht einmal in der Theorie.

Ich kann dir leider nichts über die Luftschutzbunker erzählen, denn ich war niemals in so einem „Ding“. Das ist ein Ort, wo sich hysterische Hausfrauen treffen, um zu jammern, zu weinen und jedermanns Mut zu vernichten. Wenn die Bomben fallen, mag ich mich nicht wie eine Ratte verstekken. Wenn es Zeit ist zu sterben, dann kann mir auch kein Schutzbunker mehr helfen. Man muß einen gewissen Grad an Würde behalten. ***

Unser ganzer Alltag spielt sich nun in einem Vakuum ab. Wir sind körperlich, geistig und emotional isoliert. Die Menschen in Serbien leben nicht, sie warten lediglich auf das Ende, enttäuscht und uninformiert, wie sie sind. Nicht einer hier weiß wirklich, was dort draußen passiert.

Die staatlichen serbischen Medien haben ihre eigene Story („Die faschistische Nato feiert Orgien über unseren Köpfen und betreibt Völkermord unter der Regie von ,Führer‘ Clinton“), BBC und CNN die ihre. Sie betreiben angeblich objektiven Journalismus, der aber nachweislich voreingenommen ist. Zu oft haben sich ihre „unbestätigten Informationen“ als falsch erwiesen. Die Leute auf der Straße sind mittlerweile blind vor Panik und frustriert über ihre Machtlosigkeit, irgend etwas zu tun. *** Wenn ich etwas geschäftlich zu tun habe, erledige ich es vor Sonnenuntergang. Es ist keine so lustige Vorstellung, allein zu sein in den gespenstisch leeren Straßen einer großen Stadt und für ein Taxi zu beten, während in nächster Umgebung die Bomben fallen. Andererseits gibt es keinen Ort, wohin man gehen könnte. Mein größtes Abenteuer war vor ein paar Tagen das Anstellen für Zigaretten: Ich mußte mehr als eine Stunde warten, aber es störte mich nicht: Ich bin das jetzt schon gewohnt, kein Grund zu klagen. Viele Leute haben mir gesagt, daß ich glücklich sein soll, in dieser Situation verliebt zu sein. Das bin ich natürlich auch. Aber es ist nicht die Art von Liebe, die ich kannte, es ist kein unbekümmertes Vergnügen, das Farben noch bunter macht. Wir können weder ausgehen noch Spaß haben, wir können in keinen Club gehen oder Parties mit Freunden feiern. Unser einziges Ziel ist es, soviel Zeit wie möglich zusammen zu verbringen, mal bei ihm, mal bei mir, und darüber zu reden, was wir wohl tun werden, wenn das alles vorbei ist. Erst planten wir, nach London zu reisen, weil das meine Lieblingsstadt ist und er noch nie dort war. Dann dachten wir, wie schön es doch wäre, einfach in die Berge zu fahren oder zum Schwimmen an die montenegrinische Küste, wo wir in Sicherheit wären. Einfach nur weg aus Belgrad! Ich habe genug davon für den Rest meines Lebens.

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Ich habe es noch niemandem erzählt, aber ich habe das Gefühl, daß ich langsam Platzangst bekomme. Ich hoffe, die Nato wird die Dummheit ihrer Aktionen doch noch einsehen. Es ist jetzt wirklich genug, es hilft keinem. Das ist mein letzter Trost. Wenn ich nicht glauben würde, daß es immer noch vernünftige Menschen auf dieser Welt gibt, würde ich an Selbstmord denken.

Was mir noch mehr Angst macht, ist der Gedanke an das, was danach sein wird. Wir fangen an, die Folgen der neuen Gesetzgebung zu spüren. Radio B 92, letztes Jahr Gewinner des MTV-Free-Your-Mind-Awards, ist weg vom Fenster. Die unabhängigen Medien werden vom Regime terrorisiert. Slavko Curuvija, Chefredakteur der Tageszeitung Dnevni telegraf wurde im Stadtzentrum erschossen. Er war einer der wenigen Menschen, die sich für Meinungsfreiheit in Serbien einsetzten und der seine Zeitung, trotz zahlreicher Versuche, sie einzustellen, weiter veröffentlichte. Sein Tod hat mich schockiert und mir unvorstellbare Angst eingejagt. Ist das die Strafe, die einen Individualisten erwartet, der es wagt, nicht zuzustimmen? Ist das die neugegründete serbische Einheit, auf die jeder so stolz ist? Ist das unsere Zukunft?

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Am Sonntag war das orthodoxe Osterfest, „das größte Fest der Christenheit“. Diejenigen, die an Gott glauben, haben für die Rettung von der Nato und ihren Bomben gebetet, sie glauben an ihrer Unschuld. Niemand ist unschuldig. Selbst wenn Gott persönlich vom Himmel herabsteigt und die westliche Luftwaffe mit einem Atemstoß davonbläst, sogar wenn er das völlig „satanische“, amerikanische Volk mit einem Wimpernschlag zerstört (dies ist ein allgemeines Gebet im Serbien dieser Tage. Danke, Irak, für die Inspiration): Gott wird uns niemals vor uns selbst schützen können.

Macht mir keinen Vorwurf, wenn ich mich entschließe, davonzurennen. Für Leute wie mich ist kein Platz in Serbien. Ich will nicht sterben für sie. Ich bin kein Patriot.