Abschied von der Depression

Nach dem Fall der Mauer erlebte Berlin einen steten Niedergang. Inzwischen hat sich der Wind gedreht: Plötzlich starren alle auf die neue Metropole  ■   Von Ralph Bollmann

Sanft bewegte der laue Wind an jenen Sommerabenden die silbrig glänzende Folie, und vor der Kulisse des gebändigten Kolosses geschah ein Wunder: Mit gelassener Heiterkeit feierten die Berliner sich auf eine Weise, für die das brachiale Wort „Volksfest“ eine instinktlose Beleidigung wäre.

Christo hatte die Stadt verzaubert. Mitten in der Nachwende-Depression war der verhüllte Reichstag das erste Zeichen einer vagen Hoffnung, daß es irgendwann wieder aufwärts gehen würde mit der verarmten Dreieinhalbmillionenstadt kurz vor der polnischen Grenze.

Jetzt ist der Reichstag wieder zum Symbol geworden – zum Symbol dafür, daß jene quälenden zehn Jahre zwischen Mauerfall und Regierungsumzug endlich vorbei sind, in denen es mit der Stadt nur bergab zu gehen schien.

Dabei hatte alles so schön angefangen. In der Nacht des Mauerfalls waren die Deutschen für Bürgermeister Momper „das glücklichste Volk der Welt“. Der Umzugsbeschluß des Bundestages im Juni 1991 gab den Visionen von der Großmetropole neuen Auftrieb. Doch die großen Träume zerbröselten schnell, und den kleinen Leuten machte die neue Zeit das Leben tatsächlich schwerer.

Alsbald setzte sich der Eindruck durch, die Bonner hätten es mit ihrem symbolischen Berlin-Beschluß so ernst nicht gemeint. Das Wort von der „Hauptstadtlüge“ machte die Runde. Im Herbst 1993 platzte dann die Luftblase, in die der Senat alle seine Hoffnungen hineingepustet hatte: In grotesker Selbstüberschätzung hatten sich die hauptstädtischen Provinzpolitiker um die Olympischen Spiele zur Jahrtausendwende beworben. Die peinliche Posse endete im Katzenjammer. Auch die Fusion mit dem benachbarten Flächenland Brandenburg, die den Stadtstaat seiner ärgsten Strukturprobleme entheben sollte, mißlang: Die Märker lehnten den Heiratsantrag im Mai 1996 ab.

Über Olympia und Länderfusion wurde immerhin entschieden, schließlich hing die Entscheidung nicht allein von den Berlinern ab. Alle anderen Debatten zogen sich zehn Jahre lang ohne sichtbaren Fortschritt hin – ob es um den geplanten Großflughafen ging, um den Transrapid nach Hamburg, um den Wiederaufbau des Stadtschlosses oder um Bauwettbewerbe, die nie realisiert wurden.

All jene, denen es nach dem Fall der Mauer vor einer großgermanischen Yuppie-Metropole graute, hätten sich über den Lauf der Dinge freuen können. Aber sie hatten wenig Grund zur Freude. Denn auch in ihrem Alltag ging es immer nur bergab.

Nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte hatte sich die Ebbe in der Staatskasse so unmittelbar auf das tägliche Leben ausgewirkt. Die Preise für U-Bahn-Fahrten, Schwimmbad- oder Theaterbesuche verdoppelten sich, auch die städtischen Büchereien verlangten plötzlich Gebühren. Die landeseigenen Wohnungsgesellschaften schickten ihren Mietern in kurzer Folge drastische Mieterhöhungen ins Haus – ungeachtet des schlechten Zustands der meisten Altbauwohnungen mit Kohleöfen, Außentoilette und bröckelndem Putz. Wer nicht umstandslos zahlte, bekam Post vom Gericht. Auch die Nebenkosten, von den Müllgebühren bis zum Abwasser, verdoppelten sich nahezu. Obendrein mußten viele Ostberliner bis 1996 auf ein Telefon warten.

Selbst das Studium an den einst gut ausgestatteten Hochschulen entwickelte sich zusehends zum Alptraum: Keine Tutoren mehr, keine Bücher, keine Stellen für den Nachwuchs, dafür bis zu 250 Mark Studiengebühr je Semester. In den Wohnheimen des Studentenwerks waren Zimmer bald teurer als auf dem freien Markt.

Gewiß, vor dem Fall der Mauer hatte es sich in Berlin dank öffentlicher Zuschüsse weit billiger leben lassen als in Westdeutschland. Doch läßt sich in Berlin eben auch weniger Geld verdienen: Das durchschnittliche Haushaltseinkommen, bundesweit bei fast 5.000 Mark monatlich, liegt in Berlin unter 3.000 Mark. Plötzlich entfiel die Berlinzulage, und wegen drastisch gekürzter Subventionen fielen Arbeitsplätze weg. Wer Geld verdienen wollte, mußte auch in den Neunzigern der Stadt den Rücken kehren.

Das soziale Elend wurde offensichtlicher. Die wachsende Obdachlosigkeit ließ sich nicht mehr übersehen, das Röcheln der Alkoholiker im Hinterhof nicht mehr überhören. Die Gewalt nahm zu, rechtsradikale Übergriffe in der S-Bahn machten Schlagzeilen.

Große Kulturkaufhäuser wie fnac, Virgin oder Herder mußten wieder aufgeben. Einheimischen Händlern erging es nicht anders: In ganzen Straßenzügen grassierte das Ladensterben. Auch der Tourismus lag darnieder, denn die Berliner hatten ihre größte Attraktion gerade abgerissen: die Mauer. Der letzte Direktflug in die USA wurde bald nach dem Abzug der Alliierten eingestellt.

Die beiden größten Theater des alten West-Berlin, die Freie Volksbühne und das Schiller-Theater, wurden geschlossen. Die übrigen Bühnen der Stadt hatten weder Geld noch künstlerischen Elan für spektakuläre Premieren. Bus und U-Bahn fuhren immer seltener. Wer abends unterwegs war, mußte sich wegen der Baustellen im maroden Netz auf zeitraubendes Umsteigen gefaßt machen.

Doch in der zweiten Hälfte der Neunziger begann sich das Blatt zu wenden. Mit dem Umzug der Regierung wurde es ernst. Viele Westdeutsche begriffen, daß sie sich für Berlin interessieren müßten. Neue Gesichter kamen in die Stadt. Daß sich weite Gebiete des alten Westens mental zu riesigen Seniorenparks entwickelten, interessierte niemanden mehr. Alle starrten auf den neuen Aufbruch im Zentrum des früheren Ostens.

Ex-Senator Volker Hassemer verwandelte die als belastend empfundenen Baustellen in attraktive „Schaustellen“. Jedes fertiggestellte Projekt verbesserte die Stimmung. Ob ein französisches Kaufhaus in der Friedrichstraße, ein großes Einkaufszentrum im Arbeiterbezirk Wedding, eine biedere Shopping-Mall am Potsdamer Platz oder jetzt der Reichstag: für alles Neue konnten sich die Berliner plötzlich begeistern.

Solange sich die Stadt im Wochenrhythmus verändert, wird die Aufbruchstimmung anhalten. Doch wenn alle Bauten fertig sind, droht die nächste Depression.