Der Griff nach den Sternen

Ein Sack voller Mythen: Salman Rushdie erfindet in „Der Boden unter ihren Füßen“ eine andere und freiere Welt  ■ Thomas Wörtche

Keine Frage: Die Fatwa gegen Salman Rushdie ist eine Scheußlichkeit. Schon deshalb, weil sie sich gnadenlos als Hauptsache in der öffentlichen Wahrnehmung dieses Autors aufdrängt. Rushdie möchte verständlicherweise nicht ewig „der Typ mit der Fatwa“ sein. Trotzdem ist er es. Und mehr noch: Weil Literatur ohne Kontexte nicht möglich ist, hat die Fatwa Folgen für Rushdies Texte. Das läßt sich an seinem neuen Roman „Der Boden unter ihren Füßen“ ablesen, der in der erzwungenen Isolation geschrieben ist und doch ein jeglicher Isolation abholdes Thema hat: Er beschäftigt sich mit Rock, mit der Art Musik also, die (zumindest) programmatisch die Artikulation von Freiheit betreibt. Wie verführerisch muß das für jemanden sein, der unfreiwillig klandestin lebt! Und welche Projektionsfläche für Wünsche und Phantasien von Freiheit, Entgrenzung und Griff nach den Sternen. Wenn je ein Thema Rushdies plausibel war, dann dieses.

Auch die moderne Orpheus- und-Eurydike-Geschichte, die Rushdie erzählt, hat Räson: Die Geschichte vom Doppelstern Vina Apsara und Ormus Cama, die mit ihrer Band VTO die Megagigasuperstars des Pop waren, bis der Boden unter den Füßen von Lady Vina wegbrach und Ormus vergeblich versuchte, die Geliebte aus der Unterwelt zurückzusingen. So wie Rushdie seine Freiheit zurückschreiben möchte.

Das Erdbeden, das Vina verschlingt, ereignet sich am 14. Februar 1989, an jenem Tag also, an dem die Fatwa gegen Rushdie ausgerufen wurde. Es steht am Beginn des Romans. Erst auf Seite 598 (von 742 Seiten) jedoch kann sich Ormus aufmachen, seine verlorene Liebe und Muse zurückzuzwingen. Bis es soweit ist, folgen wir beider Kindheit und Jugend, ihren Anfängen, Triumphen, Krisen und Niederlagen. Erzählt aus der Perspektive des Fotografen Umeed Merchant, genannt Rai, dem Jugendfreund der beiden und Haustrottel (auch Ersatzlover) von Vina. Die Biographie der Stars ist eingebettet in die der nicht unbeträchtlichen Verwandtschaft, in Rais Leben, in Exkursionen zu allem und jedem.

Zwei Komponenten ziehen sich durchs ganze Buch: Erdbeben-Metaphorik und eine mythologische Grundierung. Beide jedoch addieren sich – kontraproduktiv zum Thema – zum klaustrophob machenden Overkill. Die shaking grounds, auf denen sich unsere Zivilisation ohne Zweifel bewegt, werden als Metapher überstrapaziert. Nicht genug damit, daß VTO erdbebenartige Musik mit Erdbebentiteln spielt (der Megaseller ist das Album „Quakershaker“) und Risse, Sprünge und Schründe die Bilderwelt der Prosa penetrant dominieren. Nein, das Dauerbeben hat auch die Koordinaten der erzählten Welt verschoben.

Ormus' und Vinas Universum ist nicht unseres: Dort hat John Lennon „Satisfaction“ geschrieben, „Watergate“ war nur ein lächerlicher Politthriller, Madonna heißt zudem noch „Sangria“, John und Robert Kennedy wurden zusammen und viel später als 1963 ermordet, und Louis Armstrong spielte nicht Trompete, sondern Klarinette. Die historischen Grobdaten (Zweiter Weltkrieg, Unabhängigkeit Indiens, etc.) läßt Rushdie bestehen, die feineren Daten aber ändert er mit allzu leichter Hand und ohne System – als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun. Besonders die partiell umgeschriebene Musikgeschichte wirkt bloß zufällig. Und für eine grundsätzliche, geschichtsphilosophische Spekulation sind die Modifikationen des Paralleluniversums nicht deutlich genug. Die Methode produziert folgerichtig veritable Schnitzer, wenn die Konsequenzen nicht durchdacht sind und die Bilder unsinnig werden: Armstrong als Klarinettist wäre ja eigentlich kein Problem. Rushdie besteht jedoch auf Armstrongs Markenzeichen, dem „Goldenen Horn“. Golden – aber noch lange kein „Horn“ – ist aber allenfalls das Sopransaxophon. Da bleibt dann auch der Witz auf der Strecke.

Der Zwang zum überkonstruierten Paralleluniversum ergibt sich aus dem kompositorischen Dilemma des Buches: der permanenten Mythologisierung. An allen möglichen und unmöglichen Stellen implantiert Rushdie künstliche „Bedeutungskissen“ und plustert noch die kleinste Kleinigkeit zum kulturellen Akt auf, als versuche er verzweifelt, den Hochkulturcharakter seiner Prosa zu untermauern. Das Ergebnis ist eine Art „Silikonprosa“. Ein Teenie kauft Äpfel für seine kleinen Freundinnen – klar, das Urteil des Paris. Der Fotograf Rai will eine Geschichte erzählen – schwupps! müssen wir lesen, was Plinius übers Geschichtenerzählen gesagt hat, und wer's noch nicht kapiert, bekommt die Auslegung von Plinius durch Robert (Ranke-) Graves um die Ohren, bevor er dann auch noch hören muß, was dazu alles bei Lucius Apuleius steht.

Von der Inneneinrichtung bis zur metaphorischen Klammer des ganzen Texts bauschen sich die Mythologeme, die aus allen Zettelkästen quellen. Zudem beschäftigt sich Ormus' Vater, ein exzentrischer Gelehrter, auch noch mit dem Zusammenhang aller Mythen, besonders der indischen mit den germanischen. Weil auch Ormus persönlich eine mythische Qualität haben muß und sowieso in einer „Anderwelt“ (parallel zum erwähnten Paralleluniversum) lebt, werden ihm die großen Hits von seinem Zwillingsbruder (Castor & Pollux!), der bei der Geburt gestorben war, telepathisch übermittelt, und zwar immer genau 1001 Nächte, bevor sie de facto Vinyl werden. Diese Hits heißen „Yesterday“ oder „Eve of Destruction“, und schon deswegen muß die Handlung sich notgedrungen in einem anderen Universum bewegen. Mit allen sperrigen und verqueren und letztlich zum Mißlingen beitragenden Konsequenzen.

Die 1001-Nacht-Mythisierung führt leider abermals in die Irre. Rushdie als „orientalischer Fabulierer“, das war schon immer eine doofe Leerformel. Der neue Roman verweist verblüffend genau auf seinen Erstling „Grimus“ zurück und damit auf die Tradition, in der Rushdie tatsächlich seine Wurzeln hat: Auf die Science-fiction der späten 60er und frühen 70er Jahre, die New Wave. Deren Autoren von Spinrad bis Moorcock und Ballard (und eben Rushdie) ging es damals um Sex'n' Drugs&Rock'n'Roll, um notdürftig in Alternativwelten verkleidete politisch-kritische Parabeln, um anarchische Spielereien in Raum und Zeit. 1999 sind die Spielereien Rushdies auf der Kalauerebene angekommen: Im Produzenten- Clan von Yul Singh heißt der Chauffeur Limo Singh, der Gärtner Lawn Singh, andere Clan-Mitglieder Kant Singh, Gotta Singh, Wee Singh usw.

Die politische Parabelhaftigkeit ist geschrumpft auf den mittlerweile prekär gewordenen Symbolwert von „Rock“ als emanzipatorischer Musik. Zumal es Rushdie nicht gelingt, die Musik von VTO literarisch überhaupt „hörbar“ zu machen. Sie kann alles sein, und ist vielleicht so eine Art Heavy Lipsi, ein Kunstprodukt wie weiland die musikalischen Autonomieversuche in Ulbrichts DDR. Zwar schimmert auch bei Rushdie der kommerzielle Aspekt des Musik Business durch, gleichzeitig aber auch das Angelesene: Die Passagen über „Payola“ zum Beispiel erinnern doch stark an die Studie „Hit Men“ von Frederic Dannen.

Allerdings: Der Krieg zwischen Produzent und Manager von VTO ist auffällig mythenfrei gestaltet. So auffällig, daß man darüber nachdenken könnte, warum Rushdie (hinter seinem Rücken?) die dystopischen und keineswegs parabelhaften Momente seiner Rock-Saga besonders gut gelungen sind. Nicht nur die erwähnte Musikkrieg-Passage zeigt, warum Rushdie ein brillanter Erzähler sein kann, sondern auch eine andere eingelegte Geschichte, ohne mythischen Fidelwipp: Die vom „Großen Ziegenbetrug“, einem genialen Subventionsschwindel, mit dem der Erzrivale des Vina/ Ormus-Clans Milliarden einstreicht, bevor Rai mit viel Chuzpe die Affäre aufdeckt.

Solche Inkonsistenzen der Gesamtdramaturgie des Buches sind beinah tragisch. Rushdies Stärke ist das Erzählen. Aber die Gesamtstruktur des Buches ist weniger die eines Romans, der seine Handlung auf Pointen, Überraschungen, Handlungsdrehs und Story-points hinarbeiten muß, sondern die einer stammbaumartigen Chronik. Und die ist einfach langweilig. Das reizvollere Orpheus-Eurydike-Thema ist schon rein umfangmäßig nur drangeklebt, die John-Lennon- hafte Ermordung von Ormus eine mehr als erwartbare Pointe.

Fatal zwangsläufig auch das: Ormus und Vina sind keine echten Personen. Vina ist aus vielen Facetten echter Rockladies und großen Teilen von Lady Di synthetisiert, Ormus eine analoge Mixtur. Daß die beiden mittels Perma- Mythisierung zu übermenschlicher Bedeutsamkeit aufgeblasen werden, soll doch bitte wohl nicht heißen, daß Rockstars die Mythen von heute sind. Eine solche Trivialität als Grundgedanke eines weltberühmten Großschriftstellers – das wäre nun wirklich grauenhaft peinlich.

Man muß jedoch fürchten, daß die Defizite des Romans sich von der schrecklichen Situation Rushdies herleiten lassen: In seiner Isolation erscheint ihm ein Symbolfeld verlockend, das nicht einmal in einer Parallelwelt funktioniert. Es gibt keine mythischen Auswege. Auch nicht für Rushdie.

Salman Rushdie: „Der Boden unter ihren Füßen“. Roman. Deutsch von Gisela Stege. Kindler Verlag, München 1999, 742 Seiten, 58 DM