Blinde Entrüstung

Vom Zuschauer zum Komplizen: Der Kosovo-Krieg, die 68er und die Friedensbewegung. Der Pazifismus marschiert nicht durch die Institutionen, sondern er gestaltet seine Bereitschaft zum Konflikt neu  ■ Von Wolfgang
Kraushaar

Es war selbstverständlich, daß sich ein erbitterter öffentlicher Streit um das Für und Wider der Nato-Militäreinsätze abspielen würde. Und daß es, wie bereits im Falle des Golfkriegs erkennbar, dabei zu Zerreißproben, Verwerfungen und neuen Konstellationen kommen würde. Daß sich dieser Konflikt angesichts der rot-grünen Regierungskoalition und der darin präsenten ehemaligen 68er nicht nur auf die Frage nach der politischen, sondern auch der biographischen Legitimation, mehr noch nach ihrer Glaubwürdigkeit zuspitzen würde, war ebenfalls alles andere als unwahrscheinlich. Schließlich war die 68er Bewegung auch eine Antikriegsbewegung. Mit ebenso großer Vehemenz wie Emphase hatte sie sich gegen den Vietnamkrieg der USA gewandt und die Auflösung der Nato gefordert. Und nun mit den US-Amerikanern an der Spitze im Rahmen einer Nato-Militäraktion ein Land bombardieren, das während des Zweiten Weltkriegs bereits Hunderttausende Wehrmachtsopfer zu beklagen hatte? Sind Schröder, Scharping und Fischer vor dem Hintergrund ihrer eigenen politischen Biographie, wird deshalb vielerorts gefragt, nicht Opportunisten, Karrieristen oder gar Verräter?

Nun, zunächst einmal: „1968“ ist alles andere als eindeutig, es ist eine Chiffre. Mit dem Zitieren dieses Etiketts wird der Anschein erweckt, es ließe sich damit ein bestimmter Kanon von Werten ins Feld führen. Bei näherer Betrachtung zerfällt dieser Grundbestand an verallgemeinerungsfähigen Positionen oder einstmals handlungsanleitenden Imperativen jedoch in eine Vielzahl unterschiedlicher Setzungen. Es gab die verschiedenen Gruppierungen, Fraktionen und Stimmen, die von den meisten längst wieder überdacht, verändert und verworfen worden sind. Kaum weniger problematisch ist es, von einer „68er Generation“ zu sprechen, als habe es sich bei den Aktivisten um Rebellen gehandelt, die man im Kern mit der damaligen Jugendgeneration gleichsetzen und bis auf den heutigen Tag als eine Art Generationenkohorte betrachten könne. Auch das ist falsch. Die „68er Generation“ ist eine Chimäre. Die antiautoritären Studenten etwa, um nur die entscheidende Strömung zu nennen, waren eine außerordentlich kleine Minderheit. Die Tatsache, daß sie mit ihrer Elterngeneration im Konflikt standen, verdeckt nur zu leicht den Umstand, daß sie auch mit der Mehrheit ihrer eigenen Generation, den unpolitischen und mehr oder weniger angepaßten Durchschnittsjugendlichen ihrer Zeit, im Clinch lagen. Noch etwas anderes kommt hinzu: Die 68er Bewegung war keine Friedensbewegung. Sie begriff sich zwar als Antikriegsbewegung, allerdings nicht aus pazifistischen, sondern aus politischen Motiven heraus. Ihre grundsätzliche Ablehnung des Vietnamkriegs war andererseits mit einer starken Identifikation mit dem Vietkong verknüpft. Sie ging nicht nur im SDS so weit, zu einer Sammlung „Waffen für den Vietkong“ aufzurufen, um die dort Kämpfenden mehr als nur moralisch zu unterstützen. Obwohl die sogenannte Gewaltfrage immer umstritten war und sich an ihr in gewisser Weise die Geister schieden, kann es keinen Zweifel daran geben, daß sich die damaligen Kontroversen vor allem um die im nachhinein sophistisch anmutende Frage Gewalt gegen Sachen/Gewalt gegen Personen drehte. Grundsätzlich jedenfalls wurden kaum Zweifel an einer, wie es damals hieß, progressiven Funktion der Gewalt geäußert, solange deren Mittel von den dazu vermeintlich legitimierten Akteuren angewendet wurden. Man unterschied zwischen einer imperialistischen Gewalt, die es zu bekämpfen galt, und einer revolutionären, die vor allem unter taktisch-strategischen Gesichtspunkten betrachtet wurde, deren Legitimität jedoch nicht in Zweifel stand.

Ostermarsch in die Existenzkrise

Die seit 1960 in der Bundesrepublik durchgeführten Ostermärsche, für die viele Exponenten der APO nur noch Hohn und Spott übrighatten, gerieten bezeichnenderweise gerade durch die 68er Revolte in eine Existenzkrise. Sie wurden, nachdem es 1969 während ihrer Kundgebungen zu offenen Linienkonflikten gekommen war, zunächst eingestellt und erst Jahre danach, unter dem Eindruck des Nato-Nachrüstungsbeschlusses, wieder aktiviert.

Mit anderen Worten: Wer, wie in den letzten Tagen und Wochen häufig geschehen, einen Widerspruch zwischen ehemaligen 68ern und ihrem vermeintlichen Pazifismus zu konstruieren versucht, um dort eine Angriffsfläche gegen die Befürwortung von Militärschlägen zu finden, der stößt ins Leere. Zwar gibt es unzweifelhaft erhebliche Unterschiede zwischen der früheren und der heutigen Bewertung staatlicher und nichtstaatlicher, zwischen sozialer und militärischer Gewalt und den dafür jeweils angeführten Legitimations- und Kritikformen, jedoch weniger in der grundsätzlichen Beurteilung, daß der Einsatz von Gewaltmitteln unter Umständen zu rechtfertigen sei.

Wohl selten zuvor hat sich eine Friedensbewegung derartig blamiert wie während der diesjährigen Neuauflage der Ostermärsche. Sie gaben den serbischen Einpeitschern eine willfährige Plattform für ihre nationalistischen Parolen. Die wiedererweckten Friedensmarschierer haben sich zu einem nicht unerheblichen Teil zu nützlichen Idioten des Miloevic-Regimes machen lassen. Ludger Volmer, Staatssekretär der Grünen im Auswärtigen Amt, hatte kurz zuvor die Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht, daß am Ende der Verhandlungen von Rambouillet, wie er sich ausdrückte, „Miloevic die grüne Karte“ gezogen habe. Belgrad hätte darauf gesetzt, „das westliche Bündnis über die Grünen zu spalten“, indem sie ihn, Volmer, an seinen pazifistischen Positionen zu packen versucht hätten, um den Konsens innerhalb der rot-grünen Koalition aufzukündigen. „Wir Grünen“, so lautete Volmers Resümee, „mußten erleben, daß unser Pazifismus von einem Verbrecher und Staatsterroristen systematisch einkalkuliert wurde“ (FR vom 27. 3. 99). Das, was ein hochrangiger Offizieller ihrer Delegation dort vergeblich versucht hatte, ist den Serben während der Ostermärsche vorübergehend gelungen. Mit serbischen Fahnen, Parolen und Porträts ihres so innig verehrten Despoten zogen sie durch bundesdeutsche Großstädte und setzten sich in Berlin gar an die Spitze der Marschblöcke.

All jene Kritiker, die in den vergangenen und nächsten Wochen Grundsätzliches gegen die Nato-Militärschläge meinen vorbringen zu sollen, müssen sich mit den problematischen Voraussetzungen ihrer eigenen Position konfrontieren lassen. Wer glaubt, durch die Unmittelbarkeit des Eintretens für Frieden zugleich auch schon jeglicher weiteren Legitimationsbemühung enthoben zu sein und sozusagen auf der richtigen Seite zu stehen, der hat sich getäuscht. Es existiert kein moralischer Automatismus und schon gar nicht im Rahmen einer Bewegung, die in der Vergangenheit oft genug unter Beweis gestellt hat, wie wenig sie zwischen Diktaturen und Demokratien zu unterscheiden wußte und wie indifferent sie der offenkundigen wie der verdeckten Indienstnahme durch totalitäre Regime gegenüberstand. Mit dem Credo „Willst du den Frieden, bereite den Frieden mit gewaltfreien Mitteln vor“ (Klaus Vack) kann das Morden, daran darf, wie man sich über Jahre hinweg überzeugen konnte, leider kaum ein Zweifel gehegt werden, ungehindert weitergehen.

Selbstgerechte und Vertriebene

Der moralische Rigorismus des „Stoppt den Krieg sofort!“ ist hohl und selbstgerecht. Solange es keinerlei Aussicht gibt, daß der systematischen Vertreibung der Kosovo-Albaner und der in ihrem Zuge begangenen Verbrechen Einhalt geboten wird, kann eine einseitige Beendigung der Militäreinsätze dem Miloevic-Regime nur den Weg frei machen, seine ebenso makrokriminellen wie wahnhaften Ziele zu erreichen. Wer aus der Friedensbewegung glaubt, sich bei einem gegen eine völlig wehrlose Zivilbevölkerung gerichteten Vertreibungskrieg „neutral“, „friedensstiftend“ oder „diplomatisch“ verhalten zu können, macht sich nicht nur zum Zuschauer eines Makroverbrechens, die wir hierzulande fast alle sind, sondern auch zum Komplizen eines Massenmordregimes.

Die Friedensbewegung, die ihren letzten Höhepunkt zu Beginn der achtziger Jahre während der Debatte um den Nachrüstungsbeschluß erreichte, war zweifelsohne die stärkste Protestbewegung in der Geschichte der alten Bundesrepublik. Sie hat Hunderttausende, ja Millionen zu mobilisieren vermocht. So unleugbar ihre Verdienste um eine Zivilisierung der Nachkriegsgesellschaft auch gewesen sind, sie stellte immer eine Regression des Politischen dar. Ihre Grundhaltung war durch einen aus Angst geborenen gesinnungsethischen Fundamentalismus geprägt. Dieser befand sich von Anfang an in einem latenten Widerspruch zu den historischen Voraussetzungen der Bundesrepublik. Denn wer aus grundsätzlichen Erwägungen heraus davon überzeugt ist, daß es in keiner Situation, auch in der eines Völkermords nicht, legitim sei, militärische Mittel einzusetzen, der negiert die Tatsache, daß es diese Demokratie ohne die militärische Niederwerfung des NS-Regimes durch die Alliierten nie hätte geben können. Insofern hat Enzensberger, so leichtfertig er auch eine Bewaffnung der UÇK fordert, recht, wenn er in der Militärintervention der Alliierten eine Art Existential der Bundesrepublik zu erkennen glaubt.

Die Friedensaktivisten reklamierten für sich stets die höchsten moralischen Werte, waren jedoch umgekehrt nur zu oft nicht einmal bereit, sich mit den Einwänden nichtmilitaristischer Kritiker ernsthaft auseinanderzusetzen. Diese Wahrnehmung, in der der Nichtfriedensbewegte bereits als potentieller Aggressor angesehen wird, ist auch dieser Tage in vielen Gesprächen zu spüren. Besonders deutlich wird das an der Selektivität in der Wahrnehmung militärischer Aktionen der beiden Konfliktparteien. Während bei Nato-Angriffen, wie von einem verborgenen Mechanismus ausgelöst, das gesamte Arsenal an Denkschablonen aus der Zeit des Kalten Krieges wieder einrastet, ist bei der Verursachung des Konflikts, dem Vertreibungskrieg der Serben, soweit er überhaupt registriert wird, kaum ein Reflex festzustellen. Um so heftiger wird auf jene eingeprügelt, die auch nur im Ansatz Verständnis für die Entscheidung der Bundesregierung, sich an den Militäreinsätzen zu beteiligen, signalisieren. Die in hohem Maße ausgeprägte Intoleranz, abweichende Positionen zu dulden, die in Hamburg sogar dazu geführt hat, daß Schüsse auf ein Büro der GAL abgefeuert worden sind, ist nicht nur Indiz für die starke emotionale Aufladung vieler Beteiligter, sondern auch für die insgeheime Schwäche der Friedensfundamentalisten. In ihrem Kern war die Friedensbewegung darauf bedacht, ihre eigene Haltung zu pflegen. Gerade weil ihre überzeugten Anhänger mit einer kaum zu überbietenden gesinnungsethischen Penetranz auftraten, konnten sie so leicht zur Beute ihrer taktischen Friedensfreunde aus dem kommunistischen Lager werden, die sie ein ums andere Mal zu manipulieren versuchten, nicht selten mit Erfolg. Wenn heute noch Altvordern, die bereits Anfang der sechziger Jahre als Fortsetzung nächste Seite Fortsetzung

Mitglieder der illegalen KPD und später als solche der DKP zu den Organisatoren der Ostermärsche zählten, fast vierzig Jahre später und zehn Jahre nach dem Auseinanderfallen ihres politischen Wunschsystems immer noch Erklärungen für die Feiertagsmarschierer abgeben, in denen von der Vertreibung der Kosovo-Albaner mit keinem Wort die Rede ist, sollte das schon Anlaß geben, genauer darüber nachzudenken, wer hier was organisiert. Auch wenn die Zeiten, in denen Stalin noch persönlich die Delegierten der Weltfriedensbewegung ausgewählt hat, zum Glück längst vorüber sind, so scheint sich doch eine grundlegende Affinität orthodoxer linker Machtmodelle zur Friedensoption bis auf den heutigen Tag hinübergerettet zu haben.

Trotz aller Skrupel, aller Risiken, aller völker- und verfassungsrechtlich begründbaren Einwände: Die westlichen Soldaten müssen kämpfen, um einem hilflosen Volk beizustehen, dessen Untergang droht, und um den Beweis anzutreten, daß es einem totalitären System nicht gelingen kann, eine pathologische Politik in einem Teil des europäischen Kontinents durchzusetzen – und das am Ausgang dieses Jahrhunderts. Vertreibung, Völkermord und Ethnisierung auf dem eigenen Kontinent widerstandslos hinzunehmen würde bedeuten, daß eine Zivilgesellschaft unermeßlichen Schaden an ihren Prinzipien und Institutionen nehmen müßte. Miloevic, die Gestalt des Antieuropäers, darf sich nicht weiter durchsetzen, wenn die Europäische Union, die offenbar immer noch zu schwach ist, um ihre Grundprinzipien ohne die Vorreiterrolle der USA durchzusetzen, nicht vollends ihre Glaubwürdigkeit verlieren will.

Alle Rufe und Appelle nach Diplomatie, nach Politik und friedlichen Mitteln sind derzeit hohl und unglaubwürdig. Alle, aber auch wirklich alle nichtmilitärischen Formen der Annäherung, des Ausgleichs, der Verständigung und der Konfliktlösung sind in den vergangenen Jahren durchdekliniert worden. Ohne Erfolg. Im Gegenteil, dem Miloevic-Regime ist es trotz aller Bedrängungen, Restriktionen und Rückschläge immer wieder gelungen, seine menschenverachtende Strategie weiterzuverfolgen und die Wahnidee eines ethnisch reinen Großserbien Wirklichkeit werden zu lassen. Wie blind muß man eigentlich sein, um das nicht zu erkennen?

Wolfgang Kraushaar ist Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung