■ Beim Versuch, ihre Unschuld zu bewahren, macht sich die Linke zum Gehilfen von Milosevics „Friedhofsfrieden“ und verwechselt Opfer mit Tätern. Die politischen Extreme paaren sich und gebären Ungeheuer: Teil III der Serie Schriftsteller zum Krieg  Von Juan Goytisolo
: Die fatale Konsequenz der Geschichte

Aufgrund meiner eigenen Biographie verabscheue ich Luftangriffe aus tiefster Seele, auch wenn sie, wie das alliierte Oberkommando behauptet, nur minimale „Kollateralschäden“ verursachen. [Goytisolos Mutter ist während des Spanischen Bürgerkrieges bei einem Fliegerangriff auf Barcelona ums Leben gekommen; Anm. d. Red.] Dennoch glaube ich, daß wir bei all den Wirrnissen, dem Singsang der Stimmen und dem unaufhörlichen Schwall von Bildern, die uns die Tragödie im Kosovo beschert, Gefahr laufen, Ursache und Wirkung zu verwechseln: als wäre die „ethnische Säuberung“ – geplant seit der Bildung eines Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen im Jahre 1918 und der Unterzeichnung des Versailler Vertrags – eine Folge des „humanitären Problems“ der Flüchtlinge.

Der serbisch-ultranationalistische Geist der Tschetniks (die Antwort der kroatischen Ustascha war darauf eine Replik) durchdrang das Jugoslawien, wie es bis 1941 bestand, mit seinem slawisch-orthodoxen Mystizismus und der Beschwörung einer eigenen, hochedlen Identität, so daß allein schon die Anwesenheit von Muslimen, Bosniern und Kosovo-Albanern auf dem heiligen Boden des Vaterlands als eine Perpetuierung der „historischen Schmach“ ob der osmanischen Eroberung im 14. Jahrhundert und der heldenhaften Niederlage des Fürsten Lazar empfunden wurde.

Während des Widerstandskampfs gegen die von den kroatischen Faschisten unterstützten deutschen Invasoren setzten sich Titos Partisanen gegenüber den Tschetniks von Mihailovic durch und schufen so die Voraussetzung für die Errichtung einer Föderativen Republik Jugoslawien, die sich über vier Jahrzehnte hinweg in einem prekären Gleichgewicht hielt. Mit dem Tod des Diktators und Miloevics Aufstieg an die Spitze der Republik Serbien entwickelte sich das Verhältnis zwischen den Volksgruppen in eine fatale Richtung. Die Aufhebung des Autonomiestatus für das Kosovo und die Wojwodina 1989/90 war der erste Schritt auf einem Weg der Katastrophen, der zur Implosion der Föderativen Republik führte, zur Unabhängigkeit von Slowenien, Kroatien und Bosnien, zur Zerstörung von Vukovar und Sarajevo, zur brutalen Belagerung von Mostar und zum Völkermord von Srebrenica.

Wer die serbisch-ultranationalistische Ideologie kennt, die Miloevic übernommen hat, um sich zum Staatschef aufzuschwingen und auf Kosten des eigenen Volkes an der Macht zu halten, für den war spätestens seit 1992 der Ethnozid im Kosovo absehbar. Verwunderlich ist allein die Kurzsichtigkeit der politischen Klasse in den Ländern der Europäischen Union und ihre unendliche Überraschung angesichts der „Starrköpfigkeit“, mit der Miloevic seine Pläne durchführt.

Ich erinnere mich noch genau, welchen Eindruck schon zu Beginn des rabiaten panserbischen Propagandafeldzugs ein Intensivprogramm zum Ruhme des derzeitigen Herrschers über die Reste Jugoslawiens bei mir hinterließ. Die Worte des Nochkommunisten Miloevic hätten ebensogut aus dem Mund irgendeines Bischofs oder Führers der Falange zu Zeiten von Francos Kreuzzug zur Rettung der Nation stammen können. Seine Rhetorik und der aggressive, plumpe Rückgriff auf eine symbolbefrachtete Mythologie weckten bittere Erinnerungen an den spanischen Nationalkatholizismus mit seinem mythenschweren Substrat: König Roderich und die Niederlage am Guadalete, die Jungfrau von Covadonga und ihr wundertätiges Eingreifen beim ersten Sieg gegen die Mauren, die Zerstörung des Heiligen Spanien, Romanzendichtung und Auferstehung des Vaterlands dank einer Handvoll Heroen usw. – für all das gab es, wie ich feststellte, eine exakte serbische Entsprechung.

Wenn ich drei Jahre später in Sarajevo die Schrecken der Belagerung mit den Eingeschlossenen teilte, dann aus einem inneren Zwang heraus, aus Gründen, die tief in mir wurzelten. Miloevics irrationale, oftmals delirierende Rhetorik voll Haß und Verachtung für die bosnischen Muslime und albanischen Kosovaren unterschied sich nur wenig von der antijüdischen Hetze der Nazis und den Tiraden Le Pens gegen die eingewanderte Bevölkerung.

Daher fällt es schwer, für jene Verständnis aufzubringen, die heute gegen die Barbarei der Nato wettern; zumal wenn man bedenkt, daß sie während der mittelalterlichen Belagerung, die da mit modernen Waffen über Sarajevo kam, dreieinhalb Jahre lang keine Worte fanden: in ihren scheinpazifistischen Aufrufen warfen sie Henker und Opfer, Belagerer und Belagerte in einen Topf.

Glauben diese tugendhaften Banausen wirklich, die Kosovaren würden aus Furcht vor den Bombardierungen zu Hunderttausenden davonlaufen? Wissen sie immer noch nicht, daß ihre „Flucht“ von den serbischen Ultranationalisten schon viele Jahre vor dem Ausbruch dieses nur allzu vorhersehbaren Konflikts bis ins kleinste geplant war? Welche Art Virus hat das politische Denken dieser „versunkenen Linken“, wie der albanische Schriftsteller Bashkim Shehu sie treffend genannt hat, befallen, einer Linken, die mit täubchenbraver Unschuld oder unerhörter Scheinheiligkeit und dem Ruf nach „Frieden“ auf den Lippen dahermarschiert? Erkennt sie nicht, daß dieser Frieden, wie auch Miloevic ihn heute anmahnt, ein Friedhofsfrieden ist?

Berührt es einen schon peinlich, wie in Frankreich immer mehr kommunistische Wähler zur Front National überlaufen, dann möchte man sich in Grund und Boden schämen, wenn man sieht, wie die letzten Mohikaner der iberischen KPs Arm in Arm mit Fans von Jesús Gil y Gil und serbischen Fußballmultimillionären demonstrieren, die sich von dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Arkan protegieren lassen.

Gewiß begünstigt das ideologische und gesellschaftliche Chaos, das die Neue Weltordnung mit all ihren Ungerechtigkeiten heraufbeschwört, Phänomene dieser Art. Vor drei Jahren habe ich in Moskau eine Wahlversammlung erlebt, auf der das Publikum zugleich Ikonen mit dem heiligen Basilius und Bilder von Stalin in die Luft reckte, während eifrige Wächter Exemplare des „Kommunistischen Manifests“ und der „Protokolle der Weisen von Zion“ verteilten. Die Extreme berühren sich nicht nur – sie paaren sich und zeugen neue Sonderlinge und Ungeheuer.

Manchmal zeigen Schriftsteller, die sich vom politischen Leben fernhalten, bei der Beschreibung und Diagnose eines Übels den größeren Scharfblick. So zum Beispiel Manuel Puig, dessen literarische Verarbeitung der Schrecken der argentinischen Militärdiktatur soviel wert ist wie hundert politisch-soziologische Reden und Analysen. Gleiches ließe sich über zwei verblüffend aktuelle Anmerkungen von Borges sagen. Die erste, in einem Kommentar zu Wells' „Guide to the New World“, porträtiert eindrucksvoll die Überlebenden unserer untergegangenen Linken: „Verteidiger der Demokratie, die sich von Goebbels sehr zu unterscheiden glauben und ihre Leser mit dem Zungenschlag des Feindes mahnen, auf das Pochen eines Herzens zu horchen, das die letzten Befehle aus Blut und Boden empfängt.“

In der zweiten scheint er Miloevic zu beschreiben, wie er uns in diesen Tagen des Schreckens und der Empörung über all die Geschehnisse im Kosovo (Nato-Bombardements inklusive) entgegentritt: „Ich habe einen Verdacht“, schrieb Borges am 23. August 1944. „Hitler paktiert blind mit den Armeen, die ihn zwangsläufig vernichten werden, so wie der Drache und die metallischen Geier auf geheimnisvolle Weise mit Herkules paktierten.“ Ich weiß nicht, ob man Hitlers Größenwahn mit dem eines Miloevic vergleichen kann. Vielleicht will dieser seine „Heldentaten“ gar nicht mit einem großartigen Selbstmord zu Wagner-Klängen krönen. Viel wahrscheinlicher ist, daß er seine Karriere vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag beendet und auf einer Bank mit seinen serbobosnischen Spießgesellen und den kroatischen Völkermördern. Seine Propagandamaschinerie und die Methoden, mit denen er die unerwünschten Volksgruppen eliminiert, sind allerdings ähnlich, auch wenn Hitlers industrielle Schlächterei der serbischen Armee und Polizei an Effizienz weit überlegen war.

Für beide Fälle aber gilt: Ein Volk, das dem Pathos einer das Eigene verklärenden und das Fremde zerschlagenden Barbarenrhetorik erlegen ist und in den Abgrund marschiert, findet aus diesem erst heraus, wenn der Anführer verschwunden ist. Blinde Vaterlandsliebe, diese tödliche Mischung aus abstraktem Boden und einer bestimmten Blutgruppe, treibt nur allzuoft die aberwitzigsten Blüten, genau wie in dem Lied: La maté porque era mia – Ich habe sie getötet, denn sie war mein.

Aus dem Spanischen von

Thomas Brovot