Schlägereien für den Sozialismus

Es war wieder 1. Mai in Berlin und Randale: In Kreuzberg lieferten sich Linke und Polizisten die schwersten Auseinandersetzungen seit Jahren. „Jetzt gibt es Krieg“, tönte es aus den Lautsprechern der Polizei, die Demonstranten antworteten mit Steinen  ■   Von Andreas Spannbauer

Der junge Mann in der hellen Kapuzenjacke ist aus dem Häuschen: „Alter, hier ist richtig kraß Randale“, teilt er seinem Freund das Offensichtliche mit. Dann rennen beide los, auf die Polizeikette zu, die gerade mit Flaschen und Steinen beworfen wird. Es ist der Abend des 1. Mai in Berlin-Kreuzberg, und alle wollen Spaß.

In der Wiener Straße liegen Hunderte Flaschen, ein Bauwagen wurde zur Barrikade umgekippt, am Kanal brennt kurzzeitig ein Kadett, am Kottbuser Tor werden Geschäfte geplündert. Der Stadtteil erlebt die heftigsten Straßenschlachten seit Jahren. Aus einem Polizeilautsprecher ist zu hören: „Jetzt gibt es Krieg.“ Fahrzeugkolonnen der Polizei geben Gas, überfahren fast einen Demonstranten, während sie eine Gruppe Autonomer mit Flaschen angreift. Gegenstände auf die Polizei zu werfen, das ist an diesem Abend eine Art Massensport. Und einige Beamte gewinnen dem positive Seiten ab: „Bei eurer Strategie müßt ihr euch nicht wundern, wenn die Leute aggressiv werden“, wirft eine Frau einem Polizisten vor, der ihr den Weg versperrt. „Na und, is' doch geil“, meint der, „und jetzt hau ab.“

Von dem im Vorfeld betonten Deeskalationskurs der Berliner Polizei ist an diesem Abend wenig zu spüren. Ganze Hundertschaften laufen knüppelschwingend durch die Straßen, schlagen im Vorbeirennen wahllos auf Passanten ein. Eine Frau stürzt zu Boden, bleibt röchelnd liegen. Polizisten umstellen sie, als andere helfen wollen. Selbst Mitgliedern des Berliner Abgeordnetenhauses wird das Vorzeigen der Dienstnummer auf Anfrage verweigert.

Genaugenommen ist es 20 Uhr 32, als die Deeskalation Geschichte ist. Über 15.000 Menschen haben sich zuvor der „Revolutionären 1.-Mai-Demonstration“ angeschlossen, deutlich mehr als im Vorjahr. Es geht gegen den Krieg, gegen die Polizei, gegen „das kapitalistische System“. Der Lautsprecherwagen, ein 18 Meter langer Sattelschlepper, ist mit Transparenten für die internationale Solidarität behängt. Auf den riesigen Boxen inszeniert sich Alec Empire von den „Atari Teenage Riot“ als Revolutionsgott. Die Musiker haben sich selbst für den Auftritt angeboten, aus Unzufriedenheit mit der Politik in Bonn. Auch Jutta Ditfurth ist da. 1991 war die ehemalige Bundessprecherin der Grünen aus der Partei ausgetreten. Sie bilanziert: „Heute veredeln die Grünen mit verlogenen antifaschistischen Kategorien den Angriffskrieg.“ Eine Chronik von Übergriffen der Berliner Polizei wird verlesen, jeder einzelne Skandal mit den Worten „aha, aha, aha“ kommentiert.

AHA, das ist auch die Kampagne der Sicherheitskräfte für einen gewaltfreien 1. Mai. Die Buchstaben stehen für Aufmerksamkeit, Hilfe, Appell. Beamte, die statt einem Schlagstock mit einer Pistole bewaffnet sind und Anti-Gewalt-Mützen tragen, stehen den Demonstranten für Diskussionen zur Verfügung. „Ich bin gegen Gewalt“, sagen sie. „Du bist die Staatsgewalt“, antwortet ein Demonstrant. Bekir, ein 16jähriger türkischer Schüler, will sich mit einem Mitglied des AHA-Teams fotografieren lassen. „Die Autonomen sollen auch mal mit scharfen Waffen gegen die Polizei kämpfen“, meint er hinterher. Er ist „wegen Schlägereien und Sozialismus“ gekommen. „Viele der Leute wollen nicht mehr mit uns reden“, bedauert auch der 28jährige Anti-Gewalt-Polizist Sven Feldmann. Als dann Einsatztrupps gegen halb neun in die Demonstration stürmen, ist von den AHAs nichts mehr zu sehen – und das liegt nicht nur am verschossenen Tränengas, das in den Augen beißt. „Ohne Anlaß“ habe die Polizei plötzlich angegriffen, erklären die Veranstalter von der Antifaschistischen Aktion Berlin am nächsten Tag. Die Polizei wird den Einsatz mit Steinwürfen seitens der Demonstranten begründen.

Die Fortführung der Demonstration ist unmöglich, viele Teilnehmer geraten in Panik, Einsatztrupps der Polizei rufen „Attacke“, stürmen mehrere Cafés, rennen Tische mit Gästen um. Auch für Journalisten gibt es keine Sonderbehandlung: Drei werden verletzt, einem Reporter zerschlagen Beamte die Kamera. Ist die eine Kreuzung geräumt, geht der Straßenkampf an der nächsten Ecke weiter. Stundenlang. Die Polizei muß einzelne Beamte regelrecht freikämpfen. Erst nach Mitternacht ist die Schlacht zu Ende.

160 verletzte Beamte zählt die Polizei, die Veranstalter der Demonstration sprechen von rund 160 Festnahmen, die Zahl der Verletzten Demonstranten dürften ebenfalls in die Hunderte gehen. Im Virchow-Klinikum diagnostiziert man am Abend ein „gering disloziertes Nasenbein“, am Görlitzer Bahnhof stoßen Kreuzberger Schüler auf den „gelungenen revolutionären 1. Mai“ an.

Die Statistik: 380 freiheitsentziehende Maßnahmen, 35 kaputte Schaufenster, 13 umgeworfene Bauwagen, 12 beschädigte Polizeifahrzeuge, 41mal Schäden an Pkw. Am nächsten Tag bilanziert Innensenator Eckart Werthebach: „Das Einsatzkonzept ist insgesamt aufgegangen.“