„Ich gewöhne mich an die Angst“

■  E-Mail aus Belgrad: Die taz dokumentiert in loser Reihenfolge die Briefe der 24jährigen Studentin Andjela an ihre Freunde beim Augsburger Jugendmagazin „X-Mag“

Lieber Albert, in der sechsten Kriegswoche ist Frühling in Belgrad: Die Sonne scheint, die Obstbäume blühen, die Luft riecht nach Blumen und die gelegentlichen Regenschauer waschen den Schmutz von den Straßen. Am Wochenende war ich im Zentrum.

Die Knez Mihailova, Belgrads Fußgängerzone, war voller Menschen in Sommerkleidung, überall Kinder mit Eistüten. Die Cafés waren überfüllt. Niemand wäre bei diesem Anblick auf die Idee gekommen, daß hier etwas nicht stimmt. Es war der 1. Mai, unser Lieblingsfeiertag aus einer besseren Vergangenheit. Zum ersten Mal hatte ich in der Öffentlichkeit kein mulmiges Gefühl. Ich fürchte, ich beginne, die Gegenwart zu akzeptieren. Es passiert also genau das, wovor ich am meisten Angst hatte.

Meine Stimmung ist gekippt. Zuerst ging es mir ganz gut, auch wenn alle anderen in Panik ausbrachen. Dann bekam ich Angst und fühlte mich hilflos. Aber was ich jetzt fühle, ist viel schwerer zu beschreiben. Ich nehme an, daß die Angst noch immer da ist, aber ich gewöhne mich an sie – ich rutsche langsam in die Teilnahmslosigkeit. Ich denke immer noch, handle aber nicht mehr. Wir alle haben an ein schnelles Ende des Kriegs geglaubt.

Am Morgen gibt es hoffnungsvolle Nachrichten über eine politische Lösung, nachmittags hören wir, daß es doch keinen Fortschritt gibt, und nachts fallen die Bomben. So geht das jeden Tag.

Wenn ich aufwache, ist mein erster Gedanke, ob das Wasser noch läuft. Tut es. Ich nehme schleunigst eine Dusche. Ich genieße die morgendlichen Duschen mehr als jemals zuvor: Sie haben fast schon einen therapeutischen Effekt für mich.

Dann renne ich zu meinem Computer und verbringe einige Stunden mit Internet-Surfen. Immer mehr erfahre ich über albanische Flüchtlinge. Die serbischen Medien berichten wie üblich nichts darüber. Sie wollen uns weismachen, daß es keine Unterdrückung im Kosovo gibt, und daß wir in all dies nur hineingezogen wurden, weil die Welt uns haßt.

Ich erinnere mich, daß sie uns dasselbe schon während der Kriege in Bosnien und Kroatien erzählt haben: Alle haben sich gegen uns verschworen, aber wir müssen uns durchsetzen. Die Ausreden des Regimes haben die ganze Nation hypnotisiert: Wir haben jetzt unsere eigene Realität, eigene Regeln und eigenen Glauben.

Die wenigen von uns, die vor der Massenpsychose fliehen konnten, sind ebenso gründlich entmutigt: Der Aufstand gegen Miloevic zerbrach, als wir am stärksten waren. Wie kann irgend jemand annehmen, daß wir jetzt erfolgreich sein könnten, wo wir so schwach sind wie nie zuvor?

Wir haben allen Grund zum Pessimismus. Um meine finsteren Gedanken zu verdrängen, verbringe ich den größten Teil des Nachmittags damit, Disney-Cartoons auf „TV Politika“ anzuschauen. In den vergangenen paar Wochen habe ich die neuesten Disney-Produktionen gesehen. Natürlich lauter Raubkopien. Aber unter diesen Umständen wird sich wohl niemand um Copyright-Verletzungen scheren. Ich habe auch viel gelesen: James Joyce' „Portrait of the Artist as a Young Man“.

Eigentlich wollte ich ein fröhlicheres Buch lesen, aber dann sah ich ein, daß es nicht besonders klug wäre – wenn ich das Buch weglege, würde mich die Realität um so härter treffen. Ich erinnere mich daran, wie der Vater eines Freundes vor ein paar Jahren ganz aufgehört hat zu lesen. Als ich ihn fragte, warum, hat er gesagt, daß er es nicht mehr ertragen könne: „Überall ist es schöner als hier.“

Ich denke immer noch, daß ich normal geblieben bin, obwohl ich sehe, wie andere durchdrehen. Einer meiner Freunde wurde süchtig nach Nachrichten. Jeden Abend klettert er aufs Dach seines Apartment-Komplexes, um zu sehen, wo die Bomben einschlagen werden.

Mein Ex-Freund schreibt ein „Kriegstagebuch“: Er hat mir per e-mail einige Einträge geschickt. Seite für Seite hysterischer Quatsch, abseits jeder Logik und Grammatik. Als er mich fragte, was ich davon halte, und ich ihm gestand, daß ich es für extrem chaotisch halte, meinte er nur: „Und ich dachte, du würdest verstehen. Ich habe mich wohl getäuscht.“

Meine beste Freundin Ana, die ich seit meinem sechsten Lebensjahr kenne, hat es geschafft, nach Griechenland zu fliehen. Ich freue mich darüber: So hat sie wenigstens eine Chance, normal zu bleiben – wenn sie nicht zuviel über die Heimat nachdenkt.

Trotz allem werde ich nirgendwo hingehen. Ich kann mir nur lebhaft vorstellen, wie es im Ausland wäre, ohne Arbeit, ohne Geld, nur rumsitzen, den ganzen Tag Kaffeetrinken und grübeln, ob meine Eltern sicher sind, oder ob vielleicht mein Freund, der das Land nicht verlassen darf, einberufen und zum Kampf in das Kosovo geschickt wird. Im Moment ist das für mich eine noch schlimmere Vorstellung, als in Belgrad zu sein.

Letzte Nacht lagen wir im Bett, und es war ganz still. Ich konnte keine Detonationen hören, nicht einmal das Motorengeräusch eines Autos. Ich konnte nicht einschlafen. Es war, als ob der Krieg zu Ende wäre, aber er war es nicht. Aufgewühlt dachte ich darüber nach, ob dies das Gefühl ist , mit dem ich klarkommen muß, wenn dieser Krieg wirklich vorüber ist: sprach- und orientierungslos, umgeben von Dunkelheit.

Wenn ich aufwache, ist mein erster Gedanke, ob das Wasser noch läuft. Tut es. Ich genieße die morgendlichen Duschen mehr als jemals zuvor.