Protest mit Ketchup

■ „Die-in“ gegen Nato-Einsatz und neue Moral alter Pazifisten vor dem Brandenburger Tor

Eine Sirene ertönt, Menschen fallen zu Boden. Ein Blutfleck im weißen T-Shirt eines jungen Mannes, auch von seiner Stirn tropft Blut auf den Asphalt.

Im Hintergrund jedoch keine zerbombte Waffenfabrik, kein brennender Rohöltank und auch kein versehentlich zerstörtes Botschaftsgebäude, sondern: das Brandenburger Tor. Das Blut ist eigentlich Ketchup, und die Sirene kündigt keinen Luftangriff an, sondern das „Die-in“, mit dem gestern etwa 20 junge, nach eigenen Angaben keiner politischen Organisation angehörende Kriegsgegner gegen die Nato-Angriffe auf Jugoslawien und die Position der Bundesregierung protestierten.

Ihre Kritik: Die Nato-Bomben haben zur innenpolitischen Stärkung des Miloevic-Regimes beigetragen, sind für die Ausweitung der Vertreibungen der Albaner aus dem Kosovo verantwortlich und fordern immer mehr zivile Opfer. Der humanitäre Einsatz sei somit gescheitert, die Angriffe müßten eingestellt werden.

Mit der Protestform des demonstrativen „Sterbens“, entstanden im Zuge der 68er-Proteste gegen den Vietnamkrieg, verurteilten die Friedensaktivisten gleichzeitig die Politik der Bundesregierung und insbesondere den Bündnisgrünen: Während in den achtziger Jahren viele der heutigen Regierungsmitglieder „mit viel Vehemenz und Moralität in der Friedensbewegung tätig waren“, hätten sie inzwischen die „Logik des Krieges als politisches Mittel akzeptiert“, sagte Organisator Lothar Andre. Nicht zuletzt das zögerliche Vorgehen bei Flüchtlingsunterbringungen und Vor-Ort-Unterstützung zeugten davon, daß bei der Mehrheit der Politiker Idealismus und Pazifismus pragmatischem Kalkül gewichen seien – eine bittere Enttäuschung für all jene, denen die friedensmarschierende Generation der heutigen Regierungsmitglieder Joschka Fischer (Grüne) und Otto Schily (SPD) einmal Vorbild war.

Bei den Passanten, die neugierig das Ketchup-Leichenfeld umringten, rief die Aktion ein geteiltes Echo hervor. Während eine Delegation russischer Geschäftsmänner „voll und ganz hinter diesen Leuten“ stand, war sich ein älteres Ehepaar sicher: „Die kriegen dafür Geld, sowas macht man doch nicht aus freien Stücken.“ Ein anderer Passant war verärgert: „Die sollten lieber was tun, um den vertriebenen Kosovo-Albanern zu helfen.“

Dabei wollten die Protestler im Grunde eines deutlich machen: „Es gibt immer noch Pazifisten in Deutschland, und Pazifismus ist immer noch etwas Gutes.“ Tobias Hinsch