Kunst für die Lindenstraße

Hype in Hannover: Das Kunsthaus ist kein Kunsthaus, die Retrospektive keine Retrospektive. Das Nackt-Werk von Mel Ramos ist völlig widerhakenfrei und taugt eigentlich nur zum Tittengucken  ■   Von Ulf Erdmann Ziegler

Hannover ist ohnehin eine der ödesten Städte Deutschlands, aber in der Vorbereitung der Expo ist es unerträglich. Gleich am Bahnhof vermischen sich die Gerüche von Würsten und ätzenden Lacken. Die Baustellen der Innenstadt legen ein Wummern und Rattern über die Stadt. Jedes Gebäude, das nicht innerhalb von zehn Jahren abgerissen werden soll, steht im Baurock da. Die Telekom warnt bei jedem Telefon in Bahnhofsnähe, man soll die Funktion erst „mit einer leeren Karte prüfen“, weil es geschehe, daß der Automat die Karte gänzlich einbehalte.

Wer ein Auto hat, kann sich glücklich schätzen, die Berliner Allee in Sekunden zu durchfahren. Wer zu Fuß kommt, muß sich den phantasielosen Gewerbewust im Detail anschauen und kommt natürlich ins Grübeln, wenn auf einer Hauswand eine Versicherung „Mehr vom Leben“ verspricht. Genau in diesem Haus ist das sogenannte „Kunsthaus“ im Parterre eingezogen, in eine Etage, die mit marmornen Pfeilern im Eingang, ausgedehnten Teppichböden älteren Datums, verspiegelten Trägern und einer Art Oberlichtveranda im Rückteil für die Präsentation von Kunst mehr als nur ungeeignet ist.

Angekündigt ist eine „Retrospektive Mel Ramos“ – aber sagen wir es gleich: Die ganze Sache ist ein übler Hype. Ja, es gibt ein paar frühe Werke, um 1962, wo man sieht, wie sich der abstrakt verbildete Ex-Kunststudent an der Westküste der malerischen Reproduktion von Komix zuwendet, wobei er sich von Wonder Woman und Captain Midnight – patriotischen Figuren der Nachkriegsidylle – bald verabschiedet zugunsten von leicht bekleideten Tänzerinnen, die vor Signet-Hintergründen posieren. Das stärkste Bild der Ausstellung, von 1970, zeigt eine splitternackte Werbeschönheit rittlings auf einem See-Elefanten sitzend, wobei die Pin-up-Figur und ihr Gefährt(e) die gleiche, karamell-güldene Haut haben.

Es ist das beste Bild, weil es geschickt verbirgt, daß Ramos' Nacktwerk keinen Widerhaken hat – eine Tatsache, die im Rest der Ausstellung peinlichst zu Tage tritt. Vielleicht war er Anfang der 60er Jahre einmal als Pop etikettiert, aber das komplexe Verhältnis zum Fetisch, zur Ware und zur Norm, das alle bekannten Pop-Künstler auszeichnet, findet sich in dem flachen Werk von Zeichnungen, Lithographien und Aquarellen nicht wieder. Sie stammen sämtlich aus dem Privatbesitz eines New Yorker Händlers und vom Künstler selber. Kein Museum wurde beliehen. Manche sind zu verkaufen, die Preise stehen dran.

So wie das Pop-Etikett in die Irre leitet und die Retrospektive keine ist, ist auch das Kunsthaus kein Haus, sondern das Unternehmen von Frank und Mirja, die als lokale Galeristen in der „Lindenstraße“ wahrscheinlich überzeugen könnten – vorausgesetzt, sie spielten nicht sich selbst. Darin sind sie nämlich schon jenseits des TVs wenig überzeugend. Sie sind „aus Liebe zur Kunst“ (M.) auf der Suche nach „jungen Zielgruppen“ (F.), planen Ausstellungstourneen und „Events“.

Hier haben wir also einen neuen Typ regionaler Gewerbetreibender, gegen deren Treiben nichts zu sagen ist. Warum soll Mel Ramos aus Oakland, 63 Jahre alt, nicht einmal an der Berliner Allee zu Hannover „35- bis 50.000 Autofahrer täglich“ (F.) ködern, ins Haus der Hamburg-Mannheimer zu kommen und Titten zu glotzen? Nur: Die dreiste Anleihe am Wortschatz des Kunstbetriebs wird sich nicht rechnen. Mit dem Ruf kann es gehen wie mit den Karten der Telekom. Plötzlich steht man ohne da. Kunsthaus Hannover, Berliner Allee 19. Eintritt 7 DM, Katalog 20 DM