Verständnis frißt Ideen auf

Hier sitzt die pluralistische Gesellschaft zu Tisch, raucht Zigarren und erstickt ihre Kinder: Frank Castorf beeindruckt mit seiner Inszenierung von Dostojewskis „Dämonen“ an der Volksbühne  ■   Von Petra Kohse

Die Familie sieht fern. Im Bungalow flimmert die Kiste, die beiden elegant Gekleideten auf der weißledernen Sitzgruppe lachen schallend. Da donnert ein Flugzeug übers Haus, ein Tornado vielleicht, und die gute Laune hat ein Ende. Er vernachlässige seine Kleidung, wirft Warwara Petrowna ihrem Hausgefährten Stepan Trofimowitsch vor, der nie ihr Geliebter war, sondern irgendwann einmal der Hauslehrer ihrer Kinder. Seit fünfzehn Jahren kündige er ein Buch an und habe noch keine Zeile geschrieben. Auch trage er ein ekelhaftes Halstuch und werde immer widerlicher. Betrübt läßt sich Stepan Trofimowitsch ins Leder zurücksinken und starrt erneut in den Fernseher.

Warwara Petrowna wird gespielt von Silvia Rieger, Stepan Trofimowitsch von Henry Hübchen. Der Bungalow, aus dem der Ton über Lautsprecher in den Publikumsraum dringt, ist eine Erfindung von Bert Neumann. Die Offenheit, mit der Warwara das Wort ergreift, stammt von Dostojewski, der saloppe Tonfall aus der Volksbühnenfassung seines etwa 130 Jahre alten Romans „Dämonen“. Die Inszenierung schließlich, die am 9. Mai bei den Wiener Festwochen Premiere hatte und seit Mittwoch auch in Berlin gezeigt wird, ist von Frank Castorf. Sie ist die Krönung seiner ästhetischen, politischen und erzieherischen Arbeit an der Volksbühne in den letzten sieben Jahren. Ein Meisterstück.

Nach all den schauspielerischen Exaltationen, ästhetischen Collagen und dramaturgisch-intellektuellen Brüchen, die oft so herrlich wie besserwisserisch waren und die Gesellschaft mit dem Zynismus des Outcasts zu beleuchten suchten, muß nun nichts mehr bewiesen werden. Das Publikum kennt die Sprache, das Ensemble seine Möglichkeiten. Jetzt wird ruhig erzählt, was zu erzählen ist, und jeder hat teil daran. Ein ganz neuer, zeitgemäß assoziierender und dabei absolut ausgereift wirkender Realismus hat die Volksbühnenbühne ergriffen. Virtuos zieht das Geschehen vorüber wie ein langer, ruhiger Fluß, der über Untiefen immer wieder lustig plätschert, aber dabei alles verschlingt, was sich ihm entgegengestellt.

Dostojewski erzählt von einer Gesellschaft, deren Desorientierung mit Kraft und Leidenschaft gepaart der politischen Radikalisierung zutreibt. Diesen desillusionierten Blick auf die vorsozialistische Gesellschaft unterfüttert Castorf mit seinem Wissen um die Utopieverluste am Ende des 20. Jahrhunderts. Das Dämonische, das seine Geschichte umtreibt, besteht nicht aus Gier, Verbrechen und Terror, sondern aus dem unbegrenzten Verständnis der jeweils anderen, in dem jede Tat und jede Idee versackt wie in Morast. Die zentrale Frage, ob dem Volk letztlich ein Paar Stiefel oder Shakespeare von größerem Nutzen sei, gerinnt lebensecht zum Small talk.

Eine Meinung zu haben ist dem einzelnen ein Bedürfnis, nur welche, ist eigentlich egal. Die pluralistische Gesellschaft – hier sitzt sie, raucht Zigarren und erstickt ihre Kinder. Warwaras Ziehtochter Dascha kommt aus der Schweiz zurück, wo sie mit Warwaras Sohn, dem charismatischen Nikolai, eine Zeit verbrachte und sich auch in ihn verliebte. Blaß und zart steht Kathrin Angerer da und hält den Kopf schräg, als sie erfährt, daß sie den alten Stepan heiraten soll. Sie willigt ein. Martin Wuttke als Nikolai dagegen zittert zunächst in herrlicher Erbärmlichkeit, wenn er gesteht, einst ein junges Mädchen vergewaltigt und in den Tod getrieben zu haben. Dann aber sitzt er ruhig da und hört interessiert zu, wie „lächerlich“ Dascha sein Geständnis findet – ja, wahrscheinlich hat sie recht. Der Tschechowschen Notlügenhaftigkeit steht hier eine bestialische Direktheit entgegen, die aber niemanden zu verletzen vermag.

Im Bungalow, auf der Terrasse und hinter dem Haus an und in einem Schwimmbecken spielt das Geschehen, das Sir Henry am Flügel begleitet. Vor nachtschwarzem Hintergrund – dunkel ist der Weltraum, Genossen, dunkel! – ereignen sich Endlosschleifen von Anschuldigungen, die mal ins Operettenhafte, dann wieder zum wodkaseligen Strip führen oder in ein hinreißendes Slapstick-Duell – alles Zitat und doch ernst gemeint: denn wie anders könnte man noch irgend etwas zeigen, wenn jedes Tun ins Nichts, jedes Pathos in die Banalität führt. Man befindet sich, wie einmal gesagt wird, „in einem russischen Monumentalfilm italienischer Prägung und deutscher Mentalität“, und mit bizarrer Beharrlichkeit wird dieses Endlos durchschritten. Am Ende tuscht Castorf ein paar entspannte Brüche ins Bild. In einer pausenhaften Szene erklärt Herbert Fritsch einem kleinen Mädchen mit Kopftuch, wer Jesus ist. Immer näher an die Rampe rückend und das Publikum nach viereinhalb Stunden zu Zwischenrufen provozierend. Lange schaut Fritsch da in die Parkettreihen und versucht, jemanden zu erkennen. „Bleib bei diesen Leuten“, sagt er zu dem Mädchen, „die passen auf dich auf.“ Die Kleine aber rennt ihm nach.

Im Anschluß radebrecht Astrid Meyerfeldt als „Flüchtlingin“, wie so etwas bei Handke hieße, vom schönen Leben in Deutschland, bevor Joachim Tomaschewsky von der Karlsruher Kanalisation schwärmt. „Tschühüss“, winken ihm die anderen aus dem Bungalow nach, dessen elegante Wandverkleidungen schon lange abgefallen sind. „Tschühüss“, rufen sie dann auch ins Publikum.

Ästhetisch-dramaturgische Rückversicherungen des Regisseurs an das eigene Schaffen, hübsch, aber eigentlich unnötig. Denn gefällig waren auch die Stunden davor nicht. Gerade dort nicht, wo sie besonders gefielen.

Heute, 28., 29. 5 und 4., 5., 13 u. 19. 6, 19 Uhr (!), Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz

Wovon das Volk wohl mehr profitieren mag: von einem Paar Stiefel oder dem Werk Shakespeares?