Mitteleuropa? Aber wo liegt es ...

In der Zeit des Kalten Krieges war die europäische Landkarte noch klar strukturiert: Es gab den kapitalistischen Westen, und es gab den kommunistischen Osten. Seit dem Fall der Mauer und der Auflösung der politischen Blöcke hat der Begriff Mitteleuropa eine Renaissance erlebt. Doch wie will man die Mitte Europas definieren – politisch, religiös oder kulturell? Nicht zuletzt die Osterweiterung der Nato macht deutlich, daß Europas Koordinaten ins Fließen geraten sind. Wie schon so oft in der Geschiche. Ein politischer Essay  ■ VonTimothy Garton Ash

Es ist mir eine Freude“, erklärte Henry Kissinger, „hier in Osteuropa, ich meine ... in Mitteleuropa zu stehen.“ Auch im Fortgang seiner Rede verwendete er diese Formulierung: „Osteuropa, ich meine ... Mitteleuropa“. Es war in Warschau, im Sommer 1990, und in diesem Moment wußte ich, daß Mitteleuropa triumphiert hatte.

Es bleibt nur ein Problem: Wo liegt es? „Mitteleuropa“, so schrieb Madeleine Albright vergangenes Jahr in einem Zeitungsartikel, „umfaßt mehr als zwanzig Länder und zweihundert Millionen Einwohner“. Doch oftmals wird der Begriff exklusiv auf jene Länder angewendet, die in diesem Frühjahr in die Nato eingetreten sind (also auf Polen, Ungarn und die Tschechische Republik) bzw. als „erste Welle“ postkommunistischer Staaten in die EU eintreten sollen (also dieselben drei Staaten plus Estland und Slowenien).

„Mitteleuropäer“ zu sein, das bedeutet im gegenwärtigen politischen Sprachgebrauch, zivilisiert, demokratisch und kooperativ zu sein – und deshalb eine bessere Chance zum Eintritt in die EU und in die Nato zu haben. Faktisch aber nähert sich dieses Argument einem Zirkelschluß: Die Nato und die EU heißen die „Mitteleuropäer“ willkommen, folglich sind diejenigen „mitteleuropäisch“, die von Nato und EU willkommen geheißen werden.

Die Konkurrenz unterschiedlicher Definitionen Mitteleuropas basiert auf geographischen, historischen, kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen und politischen Argumenten. Auch gibt es große Unterschiede zwischen der Selbstwahrnehmung einzelner Länder und ihrer Wahrnehmung durch andere. Da Mitteleuropa per definitionem in der Mitte liegt, ist jede seiner Grenzen – ob nun im Osten oder Westen, im Norden oder Süden – umstritten.

Interessanterweise ist diejenige Grenze, die am Anfang dieses Jahrhunderts am heftigsten debattiert wurde, heute weithin unumstritten: die Westgrenze. Dies gibt Anlaß zur Hoffnung. Im Ersten Weltkrieg war die mitteleuropäische Idee Gegenstand einer explosiven Polemik: Auf der einen Seite standen liberale Vertreter des deutschen Imperialismus wie Friedrich Naumann, die ein Mitteleuropa unter deutsch-österreichischer Herrschaft anvisierten; ihnen traten Staatsmänner wie Tomás Garrigue Masaryk, der zukünftige Präsident der Tschechoslowakei, entgegen, die für ein „Stredni Evropa“ oder „Europa Srodkowa“ von Kleinstaaten optierten, das frei sein sollte von der Hegemonie Deutschlands, Österreichs und Rußlands. Der Streit zwischen diesen beiden Visionen überdauerte den „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ von 1914 bis 1945. Er kulminierte in dem Versuch des Deutschösterreichers Adolf Hitler, den östlichen Nachbarn der Deutschen seine eigene, groteske Version Mitteleuropas aufzuzwingen.

Die meisten deutschen Politiker erkennen inzwischen die Tatsache an, daß ihr wiedervereinigtes Land sowohl in Westeuropa als auch in Mitteleuropa verankert ist. Während die Deutschen die Konkurrenz von Polen und Tschechen auf dem Arbeitsmarkt beunruhigt, befürchten Polen und Tschechen, daß die Deutschen ihr Land aufkaufen. Gleichwohl wird niemand ernsthaft behaupten, es existiere aktuell eine grundlegende politische Differenz zwischen dem, was ein deutscher Durchschnittspolitiker „Mitteleuropa“, ein tschechischer Staatschef „Stredni Evropa“ oder ein Pole „Europa Srodkowa“ nennt.

Die Grenze, die uns am wenigsten Kopfzerbrechen bereiten wird, ist die nördliche. Die Baltischen Staaten stellen zweifellos einen interessanten Grenzfall dar. Die Litauer meinen, daß ihr Land sowohl zur nordischen oder baltischen Region als auch zu Mitteleuropa gehöre. Litauen ist für sie die Brücke zwischen diesen Regionen. Da Skandinavien jedoch ein Teil der westlichen kapitalistischen Welt ist und die Baltischen Staaten klein sind, bildet ihre Zwischenlage an sich kein politisches Problem.

Politisch am meisten diskutiert werden aktuell die östlichen und südlichen Grenzen. Die mitteleuropäische Idee, wiederbelebt durch Milan Kundera und andere, war gegen den „Osten“, also vor allem gegen die Sowjetunion gerichtet. Freillich hat sein Argument der russischen Kultur durchaus unrecht. Doch politisch war es gerechtfertigt und wirkungsvoll; es fungierte als Gegenmittel gegen den noch fragwürdigeren Begriff eines monolithischen „Osteuropas“.

In den neunziger Jahren wurde diese kulturelle Waffe eher gegen den Süden als gegen den Osten gerichtet. Die neuen Demokratien Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei begannen damals zielbewußt eine mitteleuropäische Zusammenarbeit, die sich in der Gründung der „Visegrád-Gruppe“ im Februar 1991 konkretisierte. Dann kam der blutige Zusammenbruch des früheren Jugoslawien. Dies führte zum Wiederauftauchen des „Balkans“, eines anderen geopolitischen Begriffs, der in Vergessenheit geraten war.

Die Assoziationen, die dieser Begriff heraufbeschwor, waren so negativ wie die Konnotationen der Mitteleuropa-Idee mittlerweile positiv waren. Der manichäistische Gegensatz zwischen dem in hellem Glanz erstrahlenden „Mitteleuropa“ und dem in Blut getauchten „Balkan“ war für die Politiker überall auf dem Kontinent – vor allem aber in Polen, Ungarn und Tschechien – ein unwiderstehliches Klischee.

All dies sollte dann noch überboten werden durch die einflußreiche These des Politologen Samuel Huntington, daß die Bruchlinien der Weltpolitik in Zukunft auf einem „Kampf der Kulturen“ basieren würden – wobei diese Kulturen primär von ihren religiösen Ursprüngen her definiert werden.

Kunderas mitteleuropäische Vision, in der das Politische vom Kulturellen her definiert wurde, paßt perfekt in das Argumentationsmuster Huntingtons, und es war daher auch wenig überraschend, daß der amerikanische Politologe den Begriff mit Freude übernahm. Aber Huntington geht noch weiter und argumentiert, daß die östlichen und südlichen Grenzen Mitteleuropas zugleich die Grenzen Europas und der „westlichen Kultur“ bilden würden.

Worum handelt es sich bei dieser Grenze, die noch grundlegender sein soll als der Eiserne Vorhang des Kalten Krieges? Nach Huntington handelt es sich um die Scheidelinie zwischen der westlichen (katholischen oder protestantischen) Christenheit einerseits und der östlichen (orthodoxen) Christenheit und dem Islam andererseits.

Diese Scheidelinie hat sich seit fünfhundert Jahren kaum verändert. Weil die Türkei und Griechenland sich auf der falschen Seite dieser Grenze befinden, rechnet Huntington sogar mit dem möglichen Ende ihrer Vollmitgliedschaft in der Nato beziehungsweise – im Falle Griechenlands – auch in der EU. Bemerkenswerterweise befinden sich jedoch die Baltischen Staaten, der größte Teil der Westukraine, das halbe Rumänien, ganz Kroatien und sogar ein kleiner Teil Bosniens und Serbiens (die frühere ungarische Provinz Wojwodina) auf der „westlichen“ Seite.

Im schlimmsten Fall ist das Resultat eine extreme Form des Kulturdeterminismus. Ich spreche – in Analogie zum Vulgärmarxismus – von einem Vulgär-Huntingtonismus. Seine schlichte These lautet: Wer das abendländische Christentum, die Renaissance, die Aufklärung, das Deutsche Reich oder Österreich-Ungarn, die Barockarchitektur und Kaffee mit Schlagobers zu seinem Kulturerbe zählen kann, der ist vorbestimmt für die Demokratie. Was aber ist mit jenen, die das östliche (orthodoxe) Christentum oder den Islam, das Russische oder Osmanische Reich, Minarette, Börek und Türkischen Kaffee als historisches Erbe haben? Verdammt zur Diktatur. Natürlich ist dies eine billige Vereinfachung, fast eine Karikatur.

Doch geht dieser extreme Kulturdeterminismus merkwürdigerweise einher mit einem nicht weniger extremen politischen Voluntarismus. Im westlichen Sprachgebrauch wird bestimmten Ländern das Gütesiegel „mitteleuropäisch“ von einem auf den andern Tag abgesprochen oder zuerkannt – je nach ihrem aktuellen politischen Verhalten. Das beste Beispiel ist die Slowakei.

Im Jahre 1990 zweifelten nur wenige daran, daß die Slowakei zu Mitteleuropa gehört. Sie besitzt viele „mitteleuropäische“ Prädikate: geographische Mittellage, überwiegend katholische Konfession, eine habsburgische Vergangenheit und eine Hauptstadt, die einst – eher unter ihren Namen Preßburg und Pozsony denn als Bratislava – eine kosmopolitische mitteleuropäische Stadt war. Gleichzeitig waren die Politiker der Slowakei jedoch um eine größere Autonomie von Prag und um eine neue Geschäftsgrundlage in der tschechisch-slowakischen Föderation bemüht.

Diese nationalistischen Forderungen eskalierten unter dem demagogischen Populisten Vladimir Meciar – bis dann der tschechische Premierminister Václav Klaus überraschenderweise viel mehr zugestand, als den meisten Slowaken – und wohl auch Meciar selbst – lieb war: den Eintritt in die volle Unabhängigkeit als souveräner Staat am 1. Januar 1993. Die Schlagzeile in einer tschechischen Zeitung brachte das Räsonnement des tschechischen Premiers auf den Punkt. Sie lautete: „Allein nach Europa oder zusammen mit der Slowakei auf den Balkan?“

Fast sechs Jahre lang führte Meciar ein korruptes, nationalistisches und halbautoritäres Regime, das man in Abwandlung einer lateinamerikanischen Prägung als Demokratura bezeichnet hat. Es hatte mehr Gemeinsamkeiten mit dem Tudjman-Regime in Kroatien oder sogar mit dem Miloevic-Regime in Serbien als mit dem politischen System der tschechischen Republik.

Die drei Pfeiler von Meciars (aber auch von Tudjmans oder Miloevic') Demokratura sind das Staatsfernsehen, die Geheimpolizei und die Aneignung der früheren staatlichen Wirtschaft durch Mitglieder und Anhänger des Regimes. Das Staatsfernsehen war manipuliert und von geradezu grotesker Einseitigkeit. Die Geheimpolizei mit dem Namen „Slowakischer Informationsdienst“ traktierte die Gegner Meciars unter anderem mit Abhöraktionen, Einbrüchen und Einschüchterungsmaßnahmen. Auf diese Weise hatte sich die Slowakei am Ende selbst aus Mitteleuropa ausgeschlossen. Sie verschwand von der Liste der „ersten Welle“ der Beitrittskandidaten für Nato und Europäischen Union.

Die Tschechen, die über ihren früheren Partner verzweifelten, pflegten dagegen immer bessere Beziehungen mit Slowenien, dem nördlichsten, wohlhabendsten und friedlichsten Teil des früheren Jugoslawien, der sich erfolgreich als mitteleuropäischer Staat verkauft hatte. Madeleine Albright, selbst tschechischer Herkunft, warnte Anfang 1998, die Slowakei drohe „ein Loch in der Karte Europas“ zu werden.

Doch dann änderte sich plötzlich alles. Im September 1998 verlor Meciar die Wahlen. Eine große Koalition von Oppositionsparteien, unterstützt durch Bürgerinitiativen, Gewerkschaften, unabhängige Medien und Teile der Katholischen Kirche, brachte ihm eine entscheidende Niederlage bei. Die „sanfte Revolution“ von 1989 war an der Slowakei eher vorbeigegangen, und der Soziologe Martin Bútora erklärte mir, der friedliche Sturz Meciars sei „unsere nachgeholte sanfte Revolution“.

Die Regierungskoalition beruht auf einem fragilen Gleichgewicht, doch bisher haben alle Mitglieder ihr Wohlverhalten durch demonstrative Äußerungen über Minderheitenrechte und Rechtsstaatlichkeit, über eine echte Marktwirtschaft und die Qualifizierung für die Nato- und EU-Mitgliedschaft unter Beweis zu stellen versucht. Der Westen hat das mit Wohlwollen honoriert. Wie durch ein Wunder gehört die Slowakei plötzlich wieder zu Mitteleuropa.

Auf die Frage „Warum hat sie sich überhaupt daraus verabschiedet?“ gibt es mehrere Antworten. Die eine lautet, daß Meciar die starke ungarische Minderheit als Sündenbock für die Schwierigkeiten der Slowakei mißbrauchte. Man könnte aus den Entwicklungen der 90er Jahre fast eine historische Faustregel ableiten: Je stärker die Bevölkerung in einem postkommunistischen Land ethnisch gemischt war, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Land eher einen autoritären als einen liberal-demokratischen Weg einschlagen würde.

Die Musterknaben der Demokratisierung – Polen, die Tschechische Republik, Ungarn und auch Slowenien – besitzen alle eine ethnisch relativ homogene Bevölkerung. (Freilich wird auch diese Regel durch eine Ausnahme bestätigt: durch Estland, wo eine große russische Minderheit lebt.)

Hierin liegt ein gewisses Paradox. In den achtziger Jahren beriefen sich die Fürsprecher Mitteleuropas nicht zuletzt auf das Völkergemisch und die kulturelle Melange dieser Region in der Vorkriegszeit: gemischte Städte wie Prag, Czernowitz oder Bratislava (bevor es so hieß), wo die Menschen gewöhnlich drei oder vier Sprachen beherrschten; große Minderheiten, vor allem Juden und Deutsche; kurz gesagt: eine multikulturelle Lebensform avant la lettre.

Um in den neunziger Jahren in den politischen Club der Mitteleuropäer aufgenommen zu werden, war es aber fast eine Vorbedingung, nicht „mitteleuropäisch“ in diesem älteren Sinne zu sein. Oder anders ausgedrückt: Es wurde für die Slowakei zu einem Stolperstein, daß sie immer noch zu mitteleuropäisch im herkömmlichen Sinne war.

Andere Gründe, die die vorübergehende Verabschiedung der Slowakei erklären, betreffen die Schwäche ihrer Opposition in den Jahren des Kommunismus. Es gab also keine liberale Gegenelite, die nach dem Sturz der Kommunisten die Macht hätte übernehmen können – und eben dies war die Chance für einen talentierten Demagogen und Populisten wie Meciar. Und schließlich war die slowakische Gesellschaft immer noch stark agrarisch geprägt und besaß nur ein relativ schwaches Bürgertum.

Damit stellt sich die Frage, weshalb sie es inzwischen dennoch geschafft hat, dieses Pensum nachzuholen. Ausschlaggebend war wohl ein wesentliches Kriterium des Mitteleuropa-Testes: die Zivilgesellschaft.

Noch in den dunkelsten Momenten des „Meciarismus“ besaß die Slowakei eine aktive Zivilgesellschaft, einen „dritten Sektor“. Es gab eine mächtige katholische Kirche. Es gab unabhängige Radiostationen, Zeitschriften und das private Fernsehen namens Markiza. Und es gab zahlreiche regierungsunabhängige Organisationen (NGOs). Anläßlich der Herbstwahlen schlossen sich an die sechzig von ihnen zu einer landesweiten Kampagne zusammen, um die Bürger zum Engagement und zur Stimmabgabe aufzufordern. Es gab Massenversammlungen, Poster, Flugblätter, bedruckte T-Shirts, Buttons, Baseball-Mützen und „Rock the Vote“-Konzerte. Wahrscheinlich hat all dies den Ausgang der Wahlen entschieden. Es waren diese neuen Wähler, die Vladimir den Schrecklichen schließlich erledigten. Einmal mehr hatte Mitteleuropa gesiegt.

Geopolitische Grenzen sind nicht einfach Linien, die von Diplomaten im Ambiente luxuriöser Konferenzsäle in Landkarten eingetragen werden. Sie schaffen eine Realität, die jeder Grenzgänger sofort mit Händen greifen kann. Der Eiserne Vorhang war von dieser Art: Nur zehn Schritte hinter dem Checkpoint Charlie begann eine andere Welt. Wer heutzutage in Europa nach einer solchen Trennlinie sucht, der sollte einmal zu Fuß die Grenze zwischen Vysné Nemecké in der Slowakei und dem ukrainischen Uzhorod überqueren.

Ich machte diesen Ausflug an einem kalten Novemberabend, und der Schock traf mich unmittelbar. Solide Asphaltstraßen verwandelten sich plötzlich in Wege mit Schlaglöchern und Kopfsteinpflaster. Die ukrainische Grenzstation schien in der Hand von kahlgeschorenen, gedrungenen Männern in schwarzen Stiefeln, schwarzen Jeans, schwarzen Pullovern und prallen schwarzen Lederjacken – die Uniform der postkommunistischen Mafiosi. Ich konnte sehen, wie sie Zollbeamte in eine dunkle Ecke bugsierten, um dann irgend etwas zu verhandeln. Fast schien mir, als zischte das Wort Korruption durch den eisigen Nebel. Sie murmelten in ihre Handys, sprangen in ihre schweren schwarzen Limousinen, das neueste und stärkste Volvo-Modell, und jagten mit aufheulendem Motor davon.

Nach einer kleinen Pause, in der wir unsere Uhren von der mittel- auf die osteuropäische Zeit umstellten, wanderten ein Bekannter und ich durch ein Villenviertel – vorbei an großen, extravaganten Residenzen mit riesigen Satellitenschüsseln, Sicherheitskameras, hohen Mauern und eisernen Toren.

Im Hotel bestand man auf Vorauszahlung, natürlich in bar, und man riet uns dringend, die Türen von innen zu verriegeln. Ein Freund erzählte uns von dem Unfall, den sein Schwiegervater kürzlich mit einem der schwarzen Volvos gehabt habe. Vier schwarzgekleidete Männer seien aus dem Wagen gesprungen: „Das kostet Sie 4.500 Dollar. In bar. Wir kommen morgen früh in Ihr Büro!“ Er rief die Polizei an und gab das Kennzeichen des Volvo zur Überprüfung durch. Eine Stunde später rief die Polizei zurück. Sie riet: „Wenn diese Männer morgen vorbeischauen, bezahlen Sie!“ Es ist eine andere Welt. Wie in Serbien sind ihre wesentlichen Eigenschaften die allgegenwärtige Korruption, Willkür gepaart mit Gewalt und ein Staat, der keinen Schutz gewähren kann oder selbst kriminell ist.

Die heutige Grenzlinie zwischen Mitteleuropa und Osteuropa – will heißen: der Ukraine, Weißrußland und dem europäischen Rußland – ist überdeutlich und sehr wirklich. Ich habe dies anekdotisch zu verdeutlichen versucht; doch man könnte dies auch systematischer belegen, mit ausführlichen Statistiken und Kurven. Auf gar keinen Fall will ich damit einem kulturellen Determinismus das Wort reden. Die Huntington-Linie, unsere heutige Nachfolgerin der Curzon-Linie, verläuft viele Kilometer östlich von hier. Die Grenze, die man bei Uzhorod überschreitet, ist nicht die Ostgrenze der westlichen Christenheit, sondern die Westgrenze der früheren Sowjetunion. Auch möchte ich nicht behaupten, daß diese Länder auf ewig zu Korruption, Chaos und Armut verdammt seien. Es gibt durchaus eine reale Chance, daß die Westukraine und Weißrußland (die wie die Baltischen Staaten nur zwei – und nicht drei – Generationen lang einen Teil der Sowjetunion bildeten) sich schneller erholen als der übrige Osten. Doch sowohl die Natur als auch das schiere Ausmaß der Übergangsprobleme, die sich den ostslawischen Staaten heute stellen, schaffen eine politische Wasserscheide, die wohl noch mindestens für ein weiteres Jahrzehnt Bestand haben wird. Heute verläuft die Ostgrenze des Westens nicht länger entlang der Elbe oder der Oder-Neisse-Linie, sondern entlang zweier anderer Flüsse, deren Namen die meisten wohl noch nie gehört haben: Bug und Uz.

An der Südgrenze zwischen Mitteleuropa und dem, was wir heute wieder Balkan nennen, stößt der Grenzgänger auf weniger scharfe Kontraste. Wer von Ungarn in das nördliche Rumänien überwechselt, bleibt in einer vertrauten Welt. Teilweise deshalb, weil auf beiden Seiten der Grenze Ungarn wohnen. Sowohl Siebenbürgen im Norden als auch das Banat im Westen – beide zusammen bilden gut ein Drittel Rumäniens – zehren noch von dem kulturellen Erbe der Doppelmonarchie. Doch auch wenn man die südlichen und östlichen Teile Rumäniens in den Blick nimmt, die einst zum Osmanischen Reich gehörten, sind die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Rumänien und Ungarn in keiner Weise mit denen zwischen der Slowakei und der Ukraine zu vergleichen.

Wer schließlich vom slowenischen in den kroatischen Teil Istriens wechselt, bemerkt überhaupt keinen Unterschied mehr. Wie mein Guida alla Mitteleuropa richtig feststellt, ist das katholische – und früher habsburgische – Kroatien historisch eindeutig ein Teil Mitteleuropas. Politisch liegt Kroatien zur Zeit allerdings noch auf dem Balkan. Doch die Chancen stehen gut, daß es wieder den Anschluß an Mitteleuropa finden wird, sobald Tudjmans Demokratura-Regime zusammenbricht – ob nun vor oder nach seinem Tod. Die neue ethnische Homogenität (erreicht durch „ethnische Säuberungen“, während der Westen wegschaute) bildet eine günstige Voraussetzung für die Rückkehr nach Mitteleuropa.

Freilich wird es wohl mindestens ein weiteres Jahrzehnt dauern, bevor alle jene Staaten, die kraft ihrer Lage, Geschichte oder Kultur glaubhaft eine mitteleuropäische Identität beanspruchen können, tatsächlich einen Teil jenes Mitteleuropas bilden werden, das in den 90er Jahren neu definiert wurde – will heißen: dank ihrer aktuellen Politik und aufgrund der Wahrnehmung durch den Westen. Noch länger wird es dauern, bis dieses Mitteleuropa zu einem normalen Teil Westeuropas geworden ist – wie heute bereits Nord- und Südeuropa. Unterdessen mögen Länder wie die Ukraine sich aufraffen, vor allem wenn der Westen ihnen entschiedener beisteht, als dies in den letzten Jahren der Fall war.

Und doch muß Mitteleuropa irgendwo enden. Eine rein politische, voluntaristische Definition dieses Raumes wäre ebenso absurd wie eine rein kulturdeterministische. Es ist zwar durchaus vernünftig, daß der Westen auf politischen Aufnahmekriterien besteht, was auf die Maxime hinausläuft, daß „derjenige Mitteleuropäer ist, der sich mitteleuropäisch verhält“. Doch sind Demokratie, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Schutz von Minderheiten und ein Interesse an friedlicher internationaler Zusammenarbeit hinreichend, um einen postkommunistischen Staat ipso facto zu einem Teil Mitteleuropas zu machen? Selbst wenn Serbien eines schönen Tages alle diese politischen Kriterien erfüllen sollte, wird es kein Teil Mitteleuropas sein. Es wird noch immer auf dem Balkan liegen.

Freilich sind solche Zuordnungen in unserer aktuellen Situation alles andere als wertneutral. Sie sind stark aufgeladen, positiv im ersten Fall, negativ im zweiten. Dies ist immer die Gefahr, wenn man geographische Begriffe mit spezifischen Wertvorstellungen oder Zielen verbindet. Das gilt auch für die Beschwörung „Europas“ (wie in der Rede von den „europäischen Werten“) oder des „Westens“ (wie in der Berufung auf die „westliche Kultur“ oder „westliche Werte“ im Gegensatz zu „asiatischen Werten“).

Die Schwierigkeit liegt darin, daß die wertgebundene Definition Mitteleuropas nicht völlig willkürlich ist – ebensowenig wie diejenige Europas oder des Westens. Sie hat einen wahren Kern. Es gab in der Entwicklung Europas ein Zentrum und eine Peripherie. Die Differenz zwischen der westlichen Christenheit (mit ihrer fundamentalen Trennung von Kirche und Staat) und der östlichen Christenheit (mit ihrem cäsaro-papistischen Erbe) ist von Bedeutung, wenn man untersucht, weshalb sich z.B. die politische Geschichte Frankreichs grundlegend von derjenigen Rußlands unterscheidet. Und diese Wahrheit betrifft nicht nur die Geschichte. Sie entspricht auch den bitteren Lektionen der Gegenwart. Als ich mich anschickte, vom Flughafen Heathrow in die Slowakei zu fliegen, traf ich einen befreundeten Banker, der viel in Mittel- und Osteuropa unterwegs ist. Er faßte seine persönlichen Erfahrungen unverblümt so zusammen: „Je weiter man nach Osten oder nach Süden gelangt, desto größer sind Korruption und Chaos.“

Der Kardinalfehler besteht aber darin, Wahrscheinlichkeiten zu Gewißheiten, Grauzonen zu scharfen Grenzen zwischen Schwarz und Weiß und vorläufige Beschreibungen zu „self-fulfilling prophecies“ zu machen. Wir wissen, daß es Wortpaarungen gibt, die nur schwer zu verwirklichen sind: balkanische Toleranz, ukrainischer Wohlstand, russische Demokratie, türkische Achtung für die Menschenrechte. Doch wer solche Wortpaare für einen grundsätzlichen Widerspruch erklärt, stellt nicht nur unsere eigenen Werte in Frage. Er verrät auch die unzähligen Menschen, die an vielen Orten für diese Dinge kämpfen – unter schwierigsten Bedingungen und oft unter Einsatz des eigenen Lebens.

Fast zwei Jahrzehnte lang bin ich für Mitteleuropa eingetreten. Ich glaube, daß die Sache das Engagement wert war und daß sie dazu beigetragen hat, die Mitte Europas in positiver Weise zu verändern. Doch bin ich entsetzt über die Art und Weise, in der die Mitteleuropa-Idee neuerdings für eine Politik der Ausgrenzung und des Relativismus mißbraucht wird. Was immer Mitteleuropa ist und wo immer es liegt – mit diesem Zerrbild soll es nichts gemein haben.

Aus dem Englischen von Matthias Grässlin

Timothy Garton Ash, 1955 in London geboren, ist Historiker und Publizist. Die vollständige Fassung des hier gekürzten Textes erscheint im aktuellen Heft der Zeitschrift „Transit Europäische Revue“ aus dem Verlag Neue Kritik. Als nächste Veröffentlichung des Mittel- und Osteuropaspezialisten erscheint im Herbst bei Hanser das Buch „Zeit der Freiheit. Zwischen Berlin und dem Amselfeld“