■ Auf der Suche nach Zutaten für einen köstlichen Wildkräutersalat
: Großstadtgaumen auf Abenteuertour

Beherzt zupacken!“ Claudia Giering demonstriert, wie man Brennnesselblätter pflückt, ohne hinterher den Notarzt rufen zu müssen. „Das Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger zusammenpressen!“ So zerquetscht man die boshaften Brennhaare, und wirklich – nichts passiert. Die Heilpflanzenkundlerin kennt sich aus. Und die Mühe lohnt: Zerkaut man das malträtierte Blatt, entfaltet sich auf der Zunge ein überraschend volles Aroma. Nussig-kernig schmeckt die rohe Nessel, sie erinnert an Getreidekörner und Bucheckern, die wir als Kinder zum Spaß kauten – und seitdem nie wieder.

Claudia Giering führt ein Dutzend staunende Berliner über eine sogenannte Streuobstwiese im Märkischen, keine halbe Autostunde südlich der Hauptstadt. Hier wird nicht etwa Obst aus europäischer Überproduktion verstreut, vielmehr verbringen knorrige Apfel-, Birnen- und Kirschbäume hier ihren Lebensabend ohne Leistungszwang, Kunstdünger und Pflanzenschutzmittel. Das schrumpelige Obst wird versaftet, die grüne Aue ein paarmal im Jahr vom Ökobauern gemäht.

Das muß sein. Sonst, so erklärt die Fachfrau, würde sich die Wiesenlandschaft langsam, aber stetig in Wald verwandeln. Und die schönen Kräuter wären perdu. Die Streuobstwiese ist ein pädagogisches Vorzeigeprojekt des Bundes Umwelt- und Naturschutz Deutschland. Sie ist ein Alptraum für den BASF-Vertreter, eine Lust für Metropolenmüde, die hier Natur sehen und schmecken.

Nicht weit vom Brennesselgestrüpp entfernt, sprießt klassisches Karnickelfutter: Löwenzahn. „Eine supertolle Universalpflanze“, doziert leidenschaftlich Gierings Kollege Harald Fuchs. Die zarteren Blätter sollen nicht nur den Stallhasen entzücken, sie passen auch in den Salat, den wir am Ende der Begehung verzehren. Also, abgepflückt und in den Korb damit.

Fuchs erklärt inzwischen raffinierte Küchenstrategien. Wenn man Wildgemüse blanchiere, verliere es seine Bitterkeit. Und auch die Knospen sollen schmecken: „In Bierteig ausgebacken“, rät Fuchs, „ist das eine Delikatesse!“ Das Backen im Teigmantel ebenso wie das Fritieren gelten als ideale Zubereitungsarten für eine Reihe wild wachsender Pflanzen, ganz besonders aber für Holunderblüten. Aber Obacht: Finger weg von Holunderblättern! Sie stinken bestialisch.

Überhaupt: Finger weg, so gemahnt der Biologe, von allem unbekannten Grünzeug! Mit den Wildkräutern ist es wie mit den Schriftstellern: Auf einen guten kommen zehn schlechte. Das bekannteste Giftkraut ist der Schierling. Mit seinem Saft, gereicht im sprichwörtlichen Schierlingsbecher, vollstreckten mittelalterliche Richter Todesurteile auf ausgesucht grausame Art. Das Gift lähmt die Atemmuskulatur, sonst nichts. Wer das Gift trinkt, erstickt bei vollem Bewußtsein. Claudia Giering warnt auch vor der Zaunrübe, einem rotbeerigen Gurkengewächs: „Die ißt man nur einmal!“

Ein Bestimmungsbuch schützt vor derlei Mißgeschick. Noch besser sind Erfahrung – oder ein sachkundiger Führer. Unter weit ausladenden Kirschbäumen wuchern Unmengen unscheinbarer Pflanzen, knapp einen Meter hoch, mit winzigen weißen Blüten. Wer erkennt das Gewächs? Die Laienschar zuckt verschämt die Schultern.

Fachfrau Claudia Giering lächelt: Es ist die Knoblauchrauke. „Nur die oberen, kleinen und jungen Blätter abpflücken!“ mahnt die Expertin. Je jünger, desto zarter. Der Geschmack des Krauts ist nicht so nussig wie die kultivierte Rauke, die als Ruccola in den letzten Jahren die Großstadtküchen erobert hat, und weniger scharf als Knoblauch. Aromatisch-mild. Ein schlichtes Butterbrot, mit den Blättchen belegt, gibt eine feine Zwischenmahlzeit. Schnell eine Handvoll gepflückt und ab ins Körbchen.

Noch tiefer im Dickicht wuchert ein dicker Teppich jener Unkrautpflanze, die schon Hunderttausende Gartenbesitzer zur Raserei gebracht hat: Giersch. Egal wie oft man ihn jätet, er wächst immer wieder nach. Harald Fuchs weiß eine hervorragende Entsorgungsart: Aufessen statt ausrotten. Giersch sei vielseitig verwendbar, natürlich roh für unseren Salat, aber auch blanchiert für Nudelfüllungen, ähnlich wie Spinat zu verarbeiten. Eine echte Vitamin-C-Bombe. Bevor Spinat die heimischen Kühltruhen eroberte, war Giersch, so Fuchs, ein weitverbreitetes Arme-Leute-Gemüse.

Was gehört noch in den Wildkräutersalat? Weinberglauch zum Beispiel. Die bläulichgrünen, schnittlauchähnlichen Halme muß man etwas länger suchen, nur vereinzelt gucken sie aus dem grünen Meer heraus. Und daneben steht Rapunzel, die Wildform des Feldsalats. Er wächst nicht nur am Boden, sondern etwa dreißig Zentimeter hoch und blüht weiß. Die Blätter sind viel kleiner als die des Feldsalats vom Acker.

Schließlich finden wir noch Gundelrebe, auch Gundermann genannt, hübsch anzusehen mit pinkfarbenen Blüten. Ein Kraftpaket von Kraut. Die kleinen fetten Blätter schmecken nach Maggi-Würze, ähnlich wie Liebstöckel, den Oma immer kiloweise für die Gemüsesuppe durch den Fleischwolf drehte.

Claudia Giering und Harald Fuchs haben einige Küchenmesserchen und eine Schüssel mitgebracht. Auf einem wackeligen Biergartentisch wird, umhüllt von einer wilden Duftwolke, geschnibbelt. Ab in die Schüssel, etwas Distelöl drüber und ein paar Eßlöffel Balsamicoessig, eine Prise Salz dazu, gut durchmischen. Und dann, endlich, können wir probieren. Ein Raunen geht durch die Gruppe. Bittere, säuerliche, nussige, grasige, scharfe, gemüsige Geschmacksnoten entfalten sich an den Großstadtgaumen. Und die Kaumuskeln kriegen Arbeit, die wilden Grünen haben Biß. Kultivierung und Zucht, weiß Harald Fuchs, hätten den Pflanzen zwar immer zartere und feinere Blätter, aber eben auch weniger Geschmack beschert. Die Esser kauen beeindruckt: „So viel Aroma ist man gar nicht mehr gewöhnt!“ Reportage: Eberhard Schäfer

Das BUND-Projekt Streuobstwiese bietet regelmäßig Wildkräuter-Führungen an, das nächste Mal am 5. Juni. Information und Anmeldung: Fon (030) 25 79 97 84. Empfehlenswerte Bestimmungs- und Rezeptbücher: Brigitte Klemme und Dirk Holtermann: „Delikatessen am Wegesrand“ und, vom gleichen Autorenduo: „Unkräuter zum Genießen“. Beide Bücher sind im Rau Verlag, Düsseldorf, erschienen, jeweils 15 Mark.