Polen feiert seinen Papiez-Polak

■ Bei seiner Warschau-Visite besuchte Johannes Paul II. gestern auch das Parlament und erinnerte an den Arbeiterwiderstand vom August 1980. An der von ihm geforderten Toleranz gegenüber Andersgläubigen müssen die Polen noch arbeiten

Warschau (taz) – Der Warschauer Taxifahrer wirft einen leicht irritierten Blick auf den gigantischen Pappmaché-Jesus, der die St.-Anna-Kirche zu umarmen scheint. Trocken meint er: „Ein bißchen geht mir ja derRummel auf die Nerven. Bißchen viel Jesus in der Stadt. Aber so ein Papstbesuch hat sein Gutes.“ Gut gelaunt biegt er in die frisch restaurierte Miodowastraße in der Altstadt ein. An allen Häusern hängen die weißgelben Flaggen des Vatikans, aus jedem zweiten Fenster blickt der Papst und winkt den Vorüberfahrenden gütig zu. „Der Straßenbelag ist erste Klasse. Keine Schlaglöcher auf der ganzen Papsttrasse! Und sogar neue Schilder haben sie aufgestellt!“

Polen gibt sich seit einer Woche dem Papstrausch hin. Gestern besuchte Johannes Paul II. zum ersten Mal in seinem inzwischen 20jährigen Pontifikat ein nationales Parlament, den polnischen Sejm und den Senat: „Wir alle wissen, daß dieses Treffen hier im Parlament ohne den entschiedenen Widerstand der Arbeiter der Danziger Werft in jenem denkwürdigen August 1980 nicht möglich wäre.“

Oben in der Loge saß Arbeiterführer Lech Walesa, der nach 1989 erste frei gewählte Staatspräsident Polens und heute eher einflußlose Politiker, und wußte sich vor Rührung und Stolz kaum zu fassen. Europa sei nun endlich wieder ein freier Kontinent und könne auf beiden Lungenflügeln atmen, dem östlichen und dem westlichen, fuhr der Papst fort, doch ganz ohne eigene Anstrengung sei dies nicht zu erreichen. Die katholische Kirche warne vor der Reduzierung Europas auf rein wirtschftliche und politische Aspekte, vor einem unkritisch auf Konsum ausgerichteten Leben. „Die neue Einheit Europas soll den Reichtum und die Verschiedenartigkeit der Kulturen und Traditionen der einzelnen Völker berücksichtigen!“ fordert der Papst vom „Alten Kontinent“. Aus dem polnischen Parlament ruft er ihm zu: „Europa, öffne Christus deine Türen!“

Außer den Bischöfen glaubt aber kaum jemand in Polen an die neue Evangelisierung Europas durch die polnischen Katholiken. Diese nämlich lieben zwar den Papst, gehen auch regelmäßig in die Kirche, tun aber nicht unbedingt das, was die katholische Morallehre von ihnen verlangt. Vor allem bei der Nächstenliebe und der Toleranz gegenüber Andersgläubigen mangelt es.

Dies mahnte dann unerwartet der Oberrabiner Polens, Pinchas Menachem, an. Als der Papst den Sejm verließ, um sich mit einzelnen Regierungsmitgliedern zu unterhalten, trat der Oberrabiner auf ihn zu und bat ihn um die Entfernung des sogenanten Papstkreuzes im früheren Konzentrationslager Auschwitz. Erst vor kurzem hatte der Sejm ein Gesetz erlassen, um über 300 illegal aufgestellte Kreuze aus Auschwitz zu entfernen. Das acht Meter hohe Papstkreuz von einer Messe des Papstes im drei Kilometer entferten Birkenau steht aber noch immer. Zwar antwortete Johannes Paul II. auf diese Bitte zunächst nicht, doch er hat noch eine Woche Zeit.

Wo immer der Pontifex während seines zweiwöchigen Polenbesuches eine Messe hielt, strömten Hunderttausende zusammen, um ihren „Papiez-Polak“, den Papst-Polen“ zu feiern. Über zwei Millionen hörten die Predigten in Danzig, Pelplin, Thorn, Lyck, Siedlce und Drohiczyn, fast zehn Millionen verfolgten sie vor dem Fernseher.

Ob seine Worte zu den Gläubigen durchdringen, ob sie am Ende auf ihn hören, weiß niemand vorherzusagen. Wie vor zwanzig Jahren auf seiner ersten Reise ins noch kommunistische Polen fordert er seine Landsleute auf, den Worten auch Taten folgen zu lassen. „Es gibt keine Freiheit ohne Solidarität“ war zum Motto der 1980 gegründeten ersten unabhängigen Gewerkschaft im damaligen Ostblock geworden. Mit dem Kampf der „Solidarnosc“ um die Freiheit Polens hatte damals die Befreiung der osteuropäischen Staaten von Moskaus Vorherrschaft begonnen.

Am ersten Tag seiner Reise durch Polen forderte der Papst bereits: „Es gibt keine Solidarität ohne Liebe!“ Und er wiederholt es jeden Tag, immer mit mit einem etwas anderen Schwerpunkt. Mal sollen die polnischen Katholiken den religiösen Minderheiten im Lande toleranter begegenen, dann wieder den Verlierern der Reform solidarischer unter die Arme greifen, mal den politischen Gegner nicht wie einen persönlichen Feind behandeln. Gabriele Lesser