Jahrhunderte, die in der Geschichte fehlen

Impressionen einer bedrohten Literatur und einer vom reichen Europa überhaupt ignorierten Kultur  ■   Von Balduin Winter

Vor bald zwanzig Jahren habe ich ihn gesehen. Bestimmt lebt er nicht mehr. Eine kleine Werkstatt in einem kosovarischen Dorf, zur Straße hin offen, Holzwände und ein gestampfter Lehmboden, eine Feuerstelle mit Blasebalg. An einer Wand ein mächtiger Holzblock, glattgehobelt die Oberfläche, darauf, im Kreuzsitz, der alte Kupferschmied, über der Faltenlandschaft des Gesichts die weiße runde Mütze. Soeben hat er mit einer Zange den noch rotglühenden, allmählich dunkelnden Rumpf einer Ölkanne geschwenkt. Das erkaltende Gefäß zieht er nun auf einem im Holzblock fixierten Eisenstift auf und bearbeitet es mit einem ganzen Arsenal von Hämmerchen, ein Staccato von sichtbarer Wirkung. Zwischen Hals und Korpus entsteht die das Gefäß umkreisende Kante. In seine Tätigkeit vertieft, scheint er seine Zuschauer, vorwiegend Kinder, nicht wahrzunehmen. Und dieses Lächeln! Je schärfer die Kreiskante hervortritt, desto heller wird seine Miene, spiegelt die Freude am gelingenden Werk.

Eines der vielen Gesichter kosovarischer Kultur, die uralte Traditionen, das orientalische Europa und die Moderne verbindet. Eine vom reichen Europa ignorierte Kultur und „eine der poetischsten Landschaften Europas“, wie der Übersetzer Hans-Joachim Lanksch das Kosovo bezeichnet. Gerade mal fünf Bücher sind in den letzten zehn Jahren ins Deutsche übersetzt worden. Bei allen heftigen Debatten der plötzlich allgegenwärtigen Militärexperten hat sich am Desinteresse für die Kultur wenig geändert. Zu fremd ist diese Region, vor der Europa seine geistigen Rolläden heruntergelassen hat. Dabei waren es nach der osmanischen Fremdherrschaft europäische Großmächte, die zuletzt die entscheidenden politischen Grenzmarken gezogen haben. Fremd ist auch die Sprache, eine der ältesten lebenden in Europa. Rund sieben Millionen Menschen sprechen sie heute, davon etwa fünfeinhalb Millionen in einem zusammenhängenden Sprachgebiet, das von zahlreichen nationalen Grenzen durchzogen wird. Außerhalb des Staates Albanien leben Albaner im Kosovo, in Westmakedonien, in Montenegro, eine kleine Minderheit auch in Serbien und im griechisch-albanischen Grenzgebiet. Daneben gibt es noch eine weit zerstreute albanische Diaspora: in Süditalien mehrere hunderttausend Arbäresh, deren Vorfahren vor rund 500 Jahren vor den Osmanen nach Kalabrien und Sizilien geflohen sind, und ein zahlenmäßig starkes Exil mit Schwerpunkten in Istanbul und Damaskus, Boston, Rom, Paris, Zürich und München.

Grenzziehungen durch fremde Mächte, Eroberungsgelüste anderer Nationen, Auswanderungswellen und Vertreibungen aufgrund wirtschaftlicher, politischer und konfessioneller Bedrohung haben eine komplizierte Situation der Zerrissenheit des albanischen Siedlungsraums geschaffen. Sie spiegelt sich auch im kosovarischen Zweig der albanischen Literatur. Die Sorge um die Bewahrung der Sprache kommt sowohl bei zahlreichen kosovarischen Autoren als auch Dichtern des Exils zum Ausdruck. Ein hervorragender Repräsentant dafür ist der kosovarische Lyriker Din Mehmeti. Sein Werk verkörpert den Brükkenschlag von archaischer Naturlyrik zum modernen Vers mit politischen Anklängen.

Es ist ein weiter Bogen, den die Literatur über das „Fehlen von Jahrhunderten in der Geschichte“ (Luljeta Lleshanaku) hinweg zur Moderne schlagen muß. Durchgängiges Motiv – ob in Legende, überliefertem Volkslied oder modernem Gedicht – sind Gewalt und Krieg, existentielle Bedrohung, sogar „der Tod erwacht erschrokken“ (Lleshanaku).

Breiten Raum nimmt dabei das Thema „Heimat“ ein. In der traditionellen Sicht war „Natur“ vor allem etwas Wildes, das zu bekämpfen den Charakter der Menschen formte. Diese Auseinandersetzung erforderte Mut, Härte, Zähigkeit, Kraft, Geduld, aus ihr ging der schaffende Mensch stolz und aufrecht hervor – Eigenschaften, die in der Mythenbildung eine wichtige Rolle spielten.

In der modernen Literatur tritt nun die Geschichte als reales Sein an die Stelle der verklärenden Mythen. Die ernüchternde Wirklichkeit vollzieht sich als eine Kette von Ereignissen, Bedrohungen und Niederlagen. „Natur“ wird zum äußeren Rahmen eines fragilen Ortes. In der Literatur wird sie zur Metapher der Beständigkeit im Gegensatz zu einer stets gefährdeten „Heimat“. Als Ort des Menschen, wo er mit allen Rechten in Würde arbeiten und leben kann, ist sie vielen Gefahren ausgesetzt: Kriege, Fluchten und Vertreibungen, wirtschaftliche Not, Zerstörung sozialer und kultureller Strukturen. Die Menschen im Kosovo mußten in wenigen Jahrzehnten all diese Erfahrungen machen. Das Bedrohungsmotiv bezieht sich nicht nur auf Möglichkeiten, nicht nur auf historische, weit zurückliegende Ereignisse, sondern auch ganz konkret auf die aktuelle Lage: In diesem Land „bezahlt man alles mit dem Kopf, selbst das Wiegenlied für Dreikäsehochs“ (Ali Podrimja).

Trotz der realen Bedrohung hatten die Kosovaren eine Art zivile Parallelgesellschaft aufgebaut, über die Mirko Kovac, einer der namhaftesten serbischen Schriftsteller, befand: „Die Albaner sind das politisch reifste Volk in Jugoslawien. Ich stimme der These des slowenischen Philosophen und Schriftstellers Slavoj Zizek zu, daß die Kosovo-Albaner ein europäisches Volk sind, das sich durch Geduld auszeichnet und politisch auf ghandihafte Methoden setzt, indem es auf Verhandlung besteht und die Gewalt zurückweist.“