Radeln und tuckern

Der Canal du Midi im Süden Frankreichs – wie geschaffen fürs sanfte Reisen mit Boot und Bike  ■   Von Friedwart Maria Rudel

„Einer ist immer weg“, lautet der wichtigste Spruch unter eingefleischten Kanalfahrern. Weg, das heißt natürlich: Mit dem Fahrrad unterwegs, irgendwo abgetaucht in die Meere aus goldgelben Sonnenblumen rechts und links des Canal du Midi, der sich im Süden Frankreichs vom Mittelmeer zum Atlantik erstreckt. Genauer: von Sète bis Toulouse, denn die westliche Verlängerung bildet der Garonne-Seitenkanal.

Mit 91 gemauerten, überaus malerischen Schleusen mäandert sich der Kanal über eine Länge von 240 Kilometern durch eine streckenweise so ruhige Landschaft, wie man sie nur noch selten findet. Ein wahres Paradies für all jene, die kontemplatives Reisen nicht mit Lethargie verwechseln. Der wahre Reiz liegt im Wechsel zwischen dem gemächlichen Tukkern über die von uralten Bäumen gesäumte Wasserstraße und den ausgedehnten Radrundtouren, zu denen die sanften Hügel, einsamen Gehöfte und abgelegenen Dörfer fortwährend animieren. Und wenn es darum geht, ein besonders schönes Restaurant abseits des Kanals zu entdecken oder für die mitten im Grünen zwischen zwei Schleusen ankernde Besatzung Salat, Wein, Baguette und Käse aus dem nächsten Dorf zu holen, wäre man ohne Rad aufgeschmissen. Ganz abgesehen davon, daß die Abende an Bord natürlich langweilig werden.

Aber auch auf dem Boot herrscht nicht nur friedvolle Ruhe. Schließlich sind tagsüber alle paar Kilometer Leinen zu werfen und Schleusentore zu kurbeln. Vor allem in der westlichen Hälfte zwischen Castelnaudary und Toulouse, wo die Schleusen noch nicht – wie im östlichen Teil – elektrifiziert sind. Genau das freilich macht besonders Spaß: Gemeinsam mit den Schleusenwärtern die schweren Schieber und Tore um die Wette auf und zu zu kurbeln, während der Rest der Besatzung an Bord die Leinen fiert oder dichtholt, damit das Boot nicht in die Schleusenmitte abdriftet und mit anderen kollidiert.

Doch keine Sorge: Nach drei, vier Schleusen stellt sich selbst bei eingefleischten Landratten die nötige Coolness ein, was ebenso für das Steuern der anfangs noch heftig schlingernden, badewannenartigen Hausboote gilt, für die man übrigens keinerlei Führerschein benötigt. Wer hier baden geht, macht's freiwillig. Doch ob man sich in das sehr bräunliche Naß wagt, ist sicher Geschmackssache. Wer sich indes einmal dazu durchgerungen hat, dem säubernden Heißhunger der Fische auf die Ablässe aus den schwimmenden Behausungen zu vertrauen, wird die Erfrischung nicht mehr missen wollen.

Wie auch immer, man ist schließlich nicht zum Badeurlaub ins Département Languedoc-Roussillon gefahren, sondern vielmehr, um die Weinfelder von Corbières und Minervois und die sonstigen Reize der südfranzösischen Provinz wortwörtlich zu erfahren. Denn wie gesagt: Einer ist immer weg. Oder auch zwei oder drei. Und die werden dann spätestens an der nächsten Schleuse auf dem Boot schmerzlich vermißt, weil weniger als drei Personen chancenlos und daher gezwungen sind, unter den allgegenwärtigen Uferplatanen festzumachen. Was freilich sehr angenehm sein kann: Liebevoll gepflegte, oft von Hühnern und Gänsen bevölkerte Schleusengärten, eine beim Wärter erstandene Rotweinflasche – da läßt man die nervigen Typen des seit Stunden hinterherfahrenden Bootes gern vorbeiziehen. Von solchen unliebsamen Begleitern ist der Kanal im westlichen Teil zum Glück fast völlig frei, während sich die Boote östlich von Carcassonne in der Hauptsaison zeitweise so häufen, daß es vor den Schleusen zu regelrechten Staus kommt.

Wir starteten im Westen, in Le Segala, am höchsten Punkt des Kanals zwischen den beiden Schleusen „L'Océan“ und „Mediterranée“, wo man direkt jene Ursprünglichkeit vorfindet, die sich seit der Erbauung des Kanals im 17. Jahrhundert kaum geändert zu haben scheint. Natürlich wurden dort sogleich die gemieteten Fahrräder getestet, und zwar auf dem Treidelpfad, der den gesamten Kanal säumt – mal links, mal rechts, mal mehr, mal weniger holprig. Dabei zeigte sich, daß sich die Mieträder kaum für Langstrecken und noch weniger für großgewachsene Menschen eigneten, so daß es sich empfiehlt, mit eigenem Rad anzureisen.

Und noch eines wurde auf dem Treidelpfad sofort klar: Der Hinweis, das Boot auf gar keinen Fall an den Baumstämmen festzumachen, ist sehr ernst zu nehmen. Denn die über den Weg gespannten Leinen würden – besonders nachts – äußerst tückische Fallen für Radler bilden. Was heißt würden: Sie tun es, zumindest dem Hörensagen nach, leider immer noch ab und zu, weil manche Besatzungen einfach nicht an die Radfahrer denken.

Wie sinnvoll am Canal du Midi gute Trekkingräder oder MTBs sind, zeigt sich übrigens auch in der Nähe größerer Orte. Denn die schönsten Ankerplätze liegen natürlich weiter außerhalb, wo in der friedlichen Natur weder Bootsnachbarn noch Straßenlaternen oder Fahrzeuggeräusche die nächtliche Ruhe stören. Hier ist man mit einem robusten Velo fein raus, weil man stets weit genug vor den Toren bleiben kann, ohne auf den Genuß eines Abendbummels durch Städtchen und Städte wie Castelnaudary, Carcassonne, Trèbes und Béziers zu verzichten. Was aber mindestens ebenso für gute Fahrräder spricht, ist die Tatsache, daß die Schleusen selbst in der Hauptsaison sowohl über Mittag als auch abends ab 19.30 Uhr (in der Nebensaison schon früher) geschlossen sind, so daß man bei ungenauer Tagesstreckenplanung schon mal unversehens zwischen zwei Schleusen zu übernachten gezwungen sein kann, die nicht – wie viele andere – über ein gemütliches Restaurant oder wenigstens ein Geschäft verfügen. Wer dann vergessen hat, Vorräte zu horten, um sich in der – komfortabel ausgerüsteten – Bordküche zu verköstigen, freut sich doch sehr über sein Rad. Besonders in jenem Abschnitt zwischen Castelnaudary, der pittoresken „Hauptstadt des Cassoulet“ (des berühmten Eintopfs aus weißen Bohnen, Fleisch und Gänseschmalz) und Carcassonne, wo über eine Strecke von 40 Kilometern keine einzige Ortschaft am Kanal liegt.

Östlich von dieser durch ländliche Abgeschiedenheit geprägten Strecke ändert der Kanal dann plötzlich sein Gesicht: Während bis hierhin kontinentale Vegetations- und Klimaverhältnisse herrschten, werden ab Carcassonne die mediterranen Einflüsse spürbar. Statt Platanen, Pappeln und Eichen stehen nun Zypressen und Palmen am Ufer, und das Leben in den Ortschaften ist spürbar quirliger. Auf einmal findet man Discos und touristische Wohnanlagen vor, in denen zum Beispiel mit Karaoke die „Nacht der Biere“ gefeiert wird. Was nach der Einöde natürlich auch etwas für sich haben kann. Zumal man sich ja ohnehin wieder an den inzwischen fast vergessenen Lärm des 20. Jahrhunderts gewöhnen muß, wenn die Reise hier endet. Reiseführer: Bernd-Wilfried Kießler: „Canal du Midi“. Edition Maritim, vertrieben über Delius Klasing (informiert in erster Linie über die nautischen Gegebenheiten).