Die Eroberung des Luftraums

Fahren oder fliegen? Für BMXler kein Gegensatz. Zu beobachten am nächsten Wochenende bei den Deutschen Meisterschaften im BMX-Freestyle  ■   Von Petra Wargalla

„Wer die Hände beim Stürzen nicht vom Lenker kriegt, hat verloren!“, warnt BMX-Künstler Dominik Oetjen gleich zu Anfang. Dominik muß es wissen – er ist stolzer Inhaber einer Vorderzahn-Krone und diverser Verletzungsmale. So ein Sturz scheint öfter mal vorzukommen. Dabei sehen die Typen so harmlos (oder: mega-albern) aus, wenn sie mit viel zu langen Beinen auf einem viel zu kleinen Rad durch die Straßen fahren. Aber wer macht das auch schon. Dieses Bike, das sieht jeder, ist nicht für den Radweg gebaut. Dafür kann man mit ihm über Bukkelpisten oder Holzpaletten rasen, elegante Salti in der Luft drehen oder ein Tänzchen auf dem

Asphalt wagen. Die besonderen Kennzeichen des Kraftpakets: stabiler Rahmen, kurzer Radabstand, hochgezogener Lenker mit verstärkender Querstrebe, kleine 20-Zoll-Laufräder, keine Schaltung und ein äußerst niedriger Sattel.

BMX – das steht für Bicycle Moto Cross und klingt ein bißchen nach rauhen Motorradrennen mit viel Staub oder Schlamm. Tatsächlich kam BMX Ende der siebziger Jahre als die jugend- und motorfreie Variante des Moto-Cross-Sports aus Amerika. Seitdem sprinten BMX-Racer mit ihren kleinen Flitzern auch bei uns über extra angelegte Pisten, gespickt mit Sprunghügeln, fiesen Bodenwellen und engen Kurven. BMX-Rennen wurden sogar offizielle Sportart, und seit 1982 gibt es eine Bundesliga.

Etwas inoffizieller, aber mindestens genauso rasant geht es bei den BMX-Freestylern zu, der mittlerweile weitaus größten Gruppe innerhalb der BMX-Szene. Hier wird nicht um die Wette geradelt, sondern konsequent der Luftraum erobert. Freestyler sind wahre Artistikkünstler – sie balancieren auf Sattel, Lenker und Achsenverlängerungen (den sogenannten Axle-pegs oder Axle-extenders) oder schießen durch steile Rampen (den Half- und Quarterpipes), um Schwung für eine 180-Grad-Drehung in der Luft zu bekommen.

Organisiert sind die Freestyler nicht, höchstens selbstorganisiert. Auf Sport mit Vereinsklüngel und Ober- oder Unterliga haben die meisten keinen Bock. „Ich will fahren, wann ich will und was ich will – ohne feste Trainingszeiten und all das“, meint zum Beispiel Sven Fanghänel aus Coburg, seit sechs Jahren mit Leib und Seele BMXler. Was nicht heißen soll, daß die Freestyler deshalb auf Welt-, Europa- oder andere Meisterschaften verzichten. Die quasi „offiziellen“ Deutschen Freestyle-Meisterschaften richtet in diesem Jahr die Coburger Szene aus. In Zusammenarbeit mit dem Funbox Skatepark Coburg (und noch ein paar anderen Sponsoren) organisieren sie am 26. und 27. Juni Wettkämpfe in fünf Disziplinen: „Flat“ (Kunststücke und Tricks auf ebener Fläche), „Street“ (Parcours über kleinere Rampen, Relings und anderen Hindernisse), „Mini“ (Sprünge in der kleinen Halfpipe), „Vert“ (Sprünge in der großen Halfpipe) oder „Dirt“ (Sprünge im Gelände oder auf Rampen). Anmelden kann sich zu der Meisterschaft jeder – gewinnen aber nur der, der die waghalsigsten aller Sprünge und die raffiniertesten Tricks auf den Beton legt.

„In den letzten Jahren hat sich der Sport zu einer Art Stunt-Fahren entwickelt, es wird immer mehr riskiert“, meint Stefan Prantl, einer der Organisatoren der Meisterschaft im letzten Jahr. Leo Sylla von ATB Sports Hannover kann das nur bestätigen: „Die Stunts werden immer krasser.“ Und damit, seiner Meinung nach, auch eigentlich medientauglich.

In den USA hat man diesen Aspekt längst entdeckt. Dort richtet der private Sportsender ESPN seit ein paar Jahren BMX-Shows aus und überträgt sie live im Fernsehen – für eine stetig wachsende Fangemeinde. Ein BMX-Hero verdient zwar noch nicht soviel wie ein Basketballstar à la Michael Jordan, aber doch schon eine ganze Menge. In Deutschland sieht das etwas anders aus: „Hier können höchstens zehn Leute vom BMX-Fahren leben“, vermutet Jann Rosskamp, Inhaber der Parano Garage in Oldenburg. Einer davon war Stefan Prantl: Fast zehn Jahre lang fuhr er hauptberuflich sein BMX – im Sommer in Deutschland, im Winter in den Staaten. Ein Agent sorgte dafür, daß er lückenlos von einer Show zur nächsten reisen konnte. Haupteinnahmequelle während dieser Zeit waren nicht etwa die Preisgelder, die sind eher spärlich, sondern die Zahlungen der Sponsoren. Einer seiner Hauptsponsoren: Swatch. Reich ist er nicht geworden, zuviel Geld ging für das Bike drauf. Denn ein Einsteiger-BMX ist zwar schon ab 400 Mark zu haben, ein Freak gibt aber schon mal locker ab 3.000 Mark aufwärts aus. Nicht mitgerechnet die diversen Ersatzteile.Es geht halt vieles zu Bruch, und das nicht nur am Rad.

Doch Stürze und Verletzungen sind für keinen richtigen BMXler ein Grund, das kleine Rad definitiv an den Nagel zu hängen. Schließlich sei die Verletzungsgefahr ja auch nur so groß „wie bei jeder Mannschaftssportart, zum Beispiel Fußball“, findet Stefan Prantl. Zumal auf dem Markt einiges an Zubehör zu haben ist, um den BMX-Helden vor dem Gröbsten zu schützen, vom Sturzhelm mit Kinnschutz bis zu Knie- und Ellbogenschützer. Allerdings: BMXler mit Helm kann man auf der Straße lange suchen. Auch Dominik aus Bremen trägt ihn nicht. Was soll's: Wichtiger sei die strikte Beachtung von Regel Nummer eins, meint er. Die Sache mit den Händen am Lenker. Einfach loslassen, wenn's zu Turbulenzen im Luftraum kommt. Und sollte es mit der Landung mal nicht so ganz klappen: Auch auf seine Narben kann man stolz sein.