Vaters Rat

■ Eine wahre Umzugsgeschichte

Alle neuen Ideen und alten Weisheiten werden bei uns in Rußland als nationales Erbe geschätzt und von Generation zu Generation vererbt. Die Idee für meinen Umzug kam von meinem Vater. Es war im Jahr 1990, die Ära von Gorbatschow ging langsam zu Ende, doch er wußte noch nichts davon. Dafür aber mein Vater.

An einem sonnigen Tag sagte er bei einem Bierchen: Die große Freiheit ist wieder in unserem Land. Ihre Ankunft wird gefeiert, es wird viel gesungen und noch mehr getrunken. Doch die Freiheit ist nur ein Gast hier. Sie kann sich in Rußland nicht lange halten. Sohn, nutze die Chance. Sitz nicht herum und sauf Bier. Die größte Freiheit ist die Möglichkeit abzuhauen. Beeile dich, denn wenn die Freiheit wieder verschwunden ist, dann kannst du lange stehen und schreien: Oh, Augenblick, verweile doch, du bist so schön.

Mein Freund Mischa und ich fuhren nach Berlin. Mischas Freundin flog nach Rotterdam, sein Bruder nach Miami und Gorbatschow nach San Francisco. Er kannte jemanden in Amerika. Für uns war Berlin am einfachsten. Man brauchte für die Stadt kein Visum, noch nicht einmal einen Reisepaß, weil sie noch nicht zur BRD gehörte. Die Zugfahrkarte kostete nur 96 Rubel, das Reiseziel war nicht weit. Um Geld für das Ticket aufzutreiben, verkaufte ich meinen Walkman und die Kassetten von Screamin' J. Hawkins. Mischa verkaufte seine Plattensammlung.

Ich hatte nicht viel Gepäck: einen schönen blauen Anzug, den mir ein Pianist vererbt hatte, eine Stange russischer Zigaretten und einige Fotos aus der Armeezeit. Auf dem Moskauer Markt kaufte ich für den Rest des Geldes noch ein paar Souvenirs: eine Matrjoschka, die mit blassem Gesicht in einem kleinen Sarg lag – das fand ich lustig, außerdem eine Flasche Wodka der Marke „Lebewohl“.

Mischa und ich trafen uns am Bahnhof, er hatte auch nur wenig dabei. Damals waren noch nicht viele Russen als Kleinhändler unterwegs: Der halbe Zug bestand aus solchen Romantikern wie uns, die auf Abenteuer aus waren. Die zwei Tage auf Reisen vergingen wie im Fluge. Der Wodka mit dem Lebewohl-Etikett wurde ausgetrunken, die Zigaretten aufgeraucht, und die Matrjoschka verschwand unter mysteriösen Umständen.

Als wir am Bahnhof Lichtenberg ausstiegen, brauchten wir erst einmal einige Stunden, um uns in der neuen Umgebung zu orientieren. Ich war verkatert, mein blauer Anzug verknittert und befleckt. Mischas Lederweste, die er im Zug beim Kartenspielen von einem Polen gewonnen hatte, brauchte ebenfalls dringend eine Reinigung. Unser Plan war einfach: Leute kennenlernen, Verbindungen schaffen, in Berlin Unterkunft finden. Die ersten Berliner, die wir kennenlernten, waren Zigeuner und Vietnamesen. Wir wurden schnell Freunde.

Die Vietnamesen nahmen Mischa nach Marzahn mit, wo sie in einem Wohnheim lebten. Dort, mitten im Marzahner Dschungel, zogen sie ihn groß, wie einst Tarzan im Film aufwuchs. Die ersten Worte, die er hier lernte, waren vietnamesische. Inzwischen studiert er Multimedia an der Humboldt-Universität und ist jedesmal beleidigt, wenn ich ihn Tarzan nenne.

Ich bin damals mit den Zigeunern mitgefahren – nach Biesdorf, wo sie in einer ehemaligen Kaserne der ostdeutschen Armee lebten, die in eine Unterkunft des gesamtdeutschen Roten Kreuzes umgewandelt worden war. Am Eingang mußte ich meinen Inlands-Paß abgeben. Dafür bekam ich ein Bett und Essen in Folie, mit der Aufschrift „Guten Appetit“.

Die Zigeuner fühlten sich hinter dem Stacheldraht der Kaserne sehr wohl. Gleich nach dem Mittagsessen zogen sie alle in die Stadt, um ihre Geschäfte zu erledigen. Abends kamen sie zurück – mit einem Sack voller Kleingeld und oft auch mit einem alten Auto. Das Geld im Sack zählten sie nie, sondern gaben es in ihrer Biesdorfer Kneipe ab. Dafür durften sie dort die ganze Nacht lang trinken. Danach stiegen die Stärkeren in den alten Wagen und fuhren ihn gegen einen Baum auf dem großen Hof hinter der Kaserne. Das war der Höhepunkt ihres nächtlichen Vergnügens.

Nach zwei Wochen hatte ich das Zigeunerleben satt. Ich entschied mich für ein bürgerliches Leben und ging in den Prenzlauer Berg, wo ich eine winzige leerstehende Wohnung mit Außenklo in der Lychener Straße fand, die ich besetzte. Später heiratete ich und mietete eine große Wohnung in der Schönhauser Allee, meine Frau bekam zwei Kinder, ich lernte einen anständigen Beruf und fing an, für die taz zu schreiben. Wladimir Kaminer